DAS 5. OPFER
zu fragen, was sie tun würde, wenn ihre Tante sich entschloss, nie wieder ihr Zimmer zu verlassen.
»Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte Lorraine mit schwacher Stimme. »Ich denke immer wieder, dass es irgendein Irrtum sein muss …«
»Die Fingerabdrücke haben übereingestimmt, Lorraine. Und die Narben.« George. Seine Stimme war müde und zittrig. »Aber ich weiß, was du meinst. Ich denke immer wieder, dass es so sein wird wie all die anderen Male – sie wird für ein paar Tage verschwinden und dann über das ganze Gesicht strahlend angetanzt kommen und so tun, als wäre sie nie weg gewesen.«
Reggie bewegte sich auf Zehenspitzen näher an die Tür heran.
»Es ist meine Schuld.« Lorraines Stimme brach.
»Du kannst dir nicht die Schuld dafür geben«, sagte George leise und beruhigend. »Es gibt nichts, was du hättest tun können.«
»Wenn wir uns nicht gestritten hätten …«
»Sie wäre ohnehin gegangen. Du weißt, wie Vera war«, sagte George. »Ist. Ich meine ist.«
Reggie erreichte den Türrahmen und stellte sich dahinter, um hineinzuspähen. Lorraine saß über den Tisch gebeugt da und hielt einen Becher Tee umklammert. George stand direkt neben ihr, drückte seinen Körper an ihren, hatte seinen Arm um sie gelegt.
»Ich schätze, es war unvermeidlich«, sagte Lorraine und setzte sich mühsam wieder aufrecht hin. Sie fuhr mit ihrer Hand durch ihr Haar, das, was untypisch für sie war, ungekämmt aussah. Ihre Augen waren rot, ihre Wangen fleckig. »Dass etwas Schreckliches passieren würde. Ich denke, ich habe es die ganze Zeit gewusst, es gespürt. Dass Vera einen Weg eingeschlagen hatte, der nur ins Verderben führen konnte. Schon seit wir Mädchen waren, dann danach, als Vater starb, zerbrach der Teil, der angeknackst gewesen war, völlig. Ich denke, dass ich sie damals verlor. Vielleicht schon davor …«
»Das bringt doch nichts«, sagte George jetzt mit brechender Stimme, während er seine eigene Tasse wegschob und der ungetrunkene Tee über den Rand schwappte. »Glaubst du nicht, dass ich dasselbe getan habe? Es in Gedanken immer wieder durchgegangen bin, von all den Möglichkeiten fantasiert habe, wie wir sie hätten retten können? ›Wenn doch nur‹ zu sagen, bringt nichts, Lorraine. Vera hat ihre eigenen Entscheidungengetroffen. Und vielleicht haben diese Entscheidungen sie zu dem geführt, was passiert ist. Vielleicht war es total zufällig.«
Lorraine weinte, es war kein zartes, damenhaftes Schnüffeln, sondern große schmerzerfüllte Schluchzer. Sie legte ihren Kopf an Georges Brust und heulte. George hielt sie fest, sein Gesicht war aschfahl, seine eigenen Augen tränennass. Er beugte sich vor und küsste sie auf den Kopf. »Er scheint nur so unfair. So … unwirklich«, flüsterte er in ihr Haar.
Ein seltsames Gefühl der Übelkeit überkam Reggie. Das waren nicht einfach nur zwei gute Freunde, die sich gegenseitig trösteten – es war aufgrund ihrer Körpersprache offensichtlich, dass sie mehr als das waren. Sie dachte daran, dass sie in der Nacht, als Lorraine ihre Mutter hinauswarf, Georges Stimme gehört hatte, und das Ganze war so offensichtlich – er hatte die Nacht mit Lorraine verbracht. Nachdem er ihnen gute Nacht gesagt hatte, musste er kehrtgemacht und gewartet haben, bis Reggie ins Bett gegangen war, und zurück ins Haus und hinauf in Lorraines Zimmer geschlichen sein. Oder vielleicht, vielleicht waren sie in der Garage auf der Ledercouch gewesen. Vielleicht war es das, worauf Vera angespielt hatte, als sie gesagt hatte, dass sie wusste, was dort draußen vor sich ging. Reggies Magen drehte sich angewidert um.
Sie erinnerte sich daran, wie Lorraine geguckt hatte, als George Vera früher an jenem Abend den Schwan gegeben hatte.
War Lorraine eifersüchtig gewesen? Sie fragte sich, ob das der wahre Grund war, warum Lorraine Vera hinausgeworfen hatte – ihr hatte die Art nicht gefallen, wie ihr Freund ihre Schwester angesehen hatte. Und wie weit genau würde Lorraine gehen, um ihre Beziehung mit George zu schützen, wenn sie sich von Vera bedroht fühlte?
Sie blickte blinzelnd zu ihrer Tante hinein, sah die Dinge jetzt in einem ganz neuen Licht, während eine Frage wie eine Alarmglocke in ihrem Kopf widerhallte: Was für andere Geheimnisse gab es, von denen sie nichts wusste?
Lorraine hob ihren Kopf, blickte George an und sagte: »Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich lag nur im Bett und stellte mir vor, was er ihr antun könnte …«
»Ich
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