DAS 5. OPFER
weiß«, sagte George und rieb ihr langsam mit kreisenden Bewegungen den Rücken. »Ich kann es nicht ertragen, einfach da zu sitzen und zu warten. Zu wissen, dass sie irgendwo da draußen ist, gefesselt. Dass es nur eine Frage der Zeit ist.«
Reggie entfernte sich rückwärtsgehend von der Küche und ging auf Strümpfen nach oben, wobei sie die untere Stufe vermied, da sie quietschte.
Nur eine Frage der Zeit.
Ihr Magen drehte sich um, und ihr Mund wurde trocken.
George hatte recht. Das Schlimmste war das Warten. Reggie konnte den Gedanken nicht ertragen, den Tag mit nichts anderem zu verbringen, als sich zwanghaft damit zu beschäftigen, wie dumm sie gewesen war, dass sie die Beziehung zwischen Lorraine und George nicht bemerkt hatte. Gab es andere Dinge, die sie direkt vor Augen hatte, aber nicht bemerkte, Hinweise, die sie zu ihrer Mutter führen könnten?
REGGIE STAND IM Flur vor ihrem Schlafzimmer, zog die Falltür herunter, die zum Dachboden führte, klappte die Holzleiter auf, die daran befestigt war, und kletterte hinauf.
Der Dachboden, der früher einmal ihrer Mutter als Nähzimmer gedient hatte, war jetzt so eine Art Vera-Museum. Sie knipste die herunterhängende Glühbirne an und sah sich um.
Da waren zwei Nähmaschinen und drei Schneiderpuppen, die jede das letzte Outfit trugen, das sie ihnen angezogen hatte. Es waren drei kopflose und armlose Torsos in Veras Größe, bekleidet mit Veras Sachen – seltsame Orakel, von denen Reggie sich wünschte, sie könnten sprechen.
Zurückgelassene Stoffballen und Kisten mit Stoffresten waren an einer der Wände aufgereiht. Es gab einen Arbeitstisch mit Scheren, einem Lineal, einem Bügeleisen und einem Nadelkissen. Auf der linken Seite des Tisches befand sich ein dreiteiliger, verstellbarer Standspiegel. Davor stand ein Schrankkoffer, gefüllt mit alten Bildern, Magazinen, Nähmustern, Fotos aus Veras Model-Portfolio und Highschool-Jahrbüchern. Reggie öffnete den Koffer und sah einige der Überreste durch, suchte nach einem Hinweis darauf, wer ihre Mutter gewesen war, bevor sie gekommen war. Doch Vera hatte wenige Hinweise hinterlassen. Es gab keine Tagebücher. Keine alten Liebesbriefe. Nichts Skandalöses. Nichts, was Reggie hätte sagen können, wer ihr Vater gewesen sein könnte. Einige alte Plakate und Programme aus der Schule, von Stücken, in denen ihre Mutter Hauptrollen gespielt hatte: Wendy in Peter Pan, Annie Oakley in Annie Get Your Gun. Reggie blätterte Veras Jahrbuch der Abschlussklasse durch und fand ein Bild von ihrer Mutter, die gewählt worden war, als die Person, die am wahrscheinlichsten berühmt werden würde. Ein Mädchen namens Lynda hatte geschrieben: Greif nach den Sternen, Vera. Da waren andere Fotos von Vera: im Schauspielclub, in Ruhelage, hochgehalten von den anderen Mitgliedern; auf der Bühne als Lady Macbeth. Reggie klappte das Jahrbuch zu, behielt es auf ihrem Schoß, während sie alles andere zurück in den Koffer stopfte.
Reggie blickte in den staubigen Spiegel, betrachtete die Spiegelung der drei gesichtslosen Puppen in Veras Kleidern hinter sich. Reggie blinzelte und dachte, sie sähe sie sich bewegen, mit unsichtbaren Armen nach ihr greifen, mit gedämpften Stimmen flüstern.
Sie ist dort draußen. Es hängt von dir ab, sie zu retten.
»Was ist, denkst du darüber nach, dir ein Ballkleid zu nähen oder so was?«
Erschreckt nahm Reggie den Blick vom Spiegel und sah, dass Tara beinahe neben ihr stand. Sie war die Treppe zum Dachboden so leise hochgeschlichen, dass Reggie keine Ahnung gehabt hatte, dass sie dort war.
»Ich habe nur einiges vom alten Kram meiner Mom durchgesehen.«
»Wie kommt es, dass du uns nicht im Diner getroffen hast, Reg? Wir wollten zur Bowlingbahn fahren, mit Dix sprechen, uns umsehen. Erinnerst du dich? Wir haben fast zwei Stunden auf dich gewartet. Sid musste zur Arbeit auf dem Golfplatz. Charlie ist gegangen, um ein paar Rasen zu mähen.«
»Es tut mir leid. Ich konnte einfach nicht. Ich weiß wirklich nicht, was das für einen Sinn haben soll.« Reggie biss sich auf die Lippe, als sie sich daran erinnerte, was Lorraine gesagt hatte: Ich schätze, es war unvermeidlich. Dass etwas Schreckliches passieren würde.
Reggie streckte einen Finger aus und berührte den Spiegel, malte eine Linie in den Staub, einen Kreis, der zu einem tornadoartigen Wirbel wurde. Manche Dinge sind einfach größer als wir. Die Schwerkraft. Die Hand des Schicksals.
Hand.
Vor ihrem inneren Auge sah sie die
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