DAS 5. OPFER
etwas zu, meine Mom schreit mich an, dass ich mein Zimmer aufräumen soll, und sagt mir, dass mein Dad uns vielleicht nicht verlassen hätte, wenn ich nicht so eine gottverdammte Chaotin wäre.« Taras Kinn begann zu zittern, aber sie saß kerzengerade da, riss sich zusammen. Als sie wieder sprach, war ihre Stimme leise und ruhig. »Und an manchen Tagen bin ich sicher, dass ich explodieren werde, wenn ich all die Gedanken und Stimmen nicht aufhalten kann, sie nicht davon abhalten kann, außer Kontrolle zu geraten.«
Reggie starrte auf ihr schniefendes Spiegelbild, Tränen und Schnodder liefen über ihr Gesicht.
»Aber ich kenne das Geheimnis«, sagte Tara und lächelte schelmisch. »Ich kann sie jetzt aufhalten. Wir beide können das.«
Reggie setzte sich vor dem Spiegel hin, sah zu, wie Tara in ihre schwarze Tasche griff und die silberne Schachtel mit der Rasierklinge herauszog, die wie ein winziges Geschenk in Stoff gewickelt war. Sie hielt sie Reggie hin, wartete.
Reggie nahm die Klinge, zog begierig das Bein ihrer Trainingshose hoch. Doch sie zwang sich innezuhalten und sah Tara an.
»Es wird sich so gut anfühlen«, sagte Tara, beugte sich vor, zitterte ein wenig, als sie die makellose Haut von Reggies Wade betrachtete. Tara sah wunderbar aus, so blass und leuchtend, als wäre ihre Haut aus Mondlicht.
»Mach du es für mich«, sagte Reggie und hielt ihr die Rasierklinge hin. Tara stieß ein dankbares kleines Keuchen aus, wie ein Mädchen, das gerade das zu Weihnachten bekommen hat, was es sich am meisten gewünscht hatte.
Tara griff nach der Klinge, ließ sie über Reggies Haut schweben, kostete den Augenblick aus. Taras Atem kam schneller, unregelmäßiger. Reggie biss sich auf die Lippe, wartete, wollte es, fürchtete sich aber gleichzeitig davor. Tara senkte die Klinge leicht, streichelte damit über die Haut, ohne sie hineinzustoßen.
»Bitte«, sagte Reggie, und Tara drückte die Klinge fest nach unten, was Reggie aufschreien ließ. Tara machte ein Geräusch wie mmm, als sie die Klinge zurückzog und sich erlaubte, Reggies Schnitt zu berühren, ihn öffnete, was Reggie zusammenzucken ließ. Er war tief und blutete stärker als all die zimperlichen, kleinen Schnitte, die Reggie sich selbst zugefügt hatte. Sie ließ sich von dem Schmerz überfluten wie von einer Welle, spürte, wie sie damit verschmolz.
Da war kein Neptun, keine vermisste Mutter, kein Charlie und keine Lorraine, kein abscheuliches kleines Zimmer im Effizienz am Flughafen mehr.
Da war niemand mehr, außer ihr und Tara, deren Finger klebrig waren von Reggies Blut, beide Mädchen fühlten sich unbesiegbar.
33 22. Oktober 2010 – Brighton Falls, Connecticut
MIST!«, SCHRIE REGGIE, als die Klinge des Teppichmessers in die Spitze ihres linken Daumens schnitt. Blut verschmierte das Stück Rigipsplatte, das sie zugeschnitten hatte, hinterließ ein Rohrschachtest-Muster, das zuerst wie ein Marienkäfer aussah, dann, als das Blut tiefer einsickerte, wie ein Hummer. Ein halbe Sekunde lang war sie wieder in ihrem alten Körper, ließ sich selbst eine Art kranke Freude am Schmerz empfinden, verlor sich darin, dachte, dass es sie irgendwie stärker machte.
»Schwachkopf«, sagte sie zu sich selbst, als sie sich zur Küchenspüle bewegte, um den Schnitt auszuwaschen. Sie spähte durch das Fenster über der Spüle und sah einen Nachrichtentruck mit einer Satellitenschüssel am unteren Ende ihrer Auffahrt. Ein Mann, der eine schwere Kamera auf seiner Schulter trug, kam näher. Eine Frau mit tadelloser Frisur und dickem Make-up folgte. Die Presse kam weiterhin und machte Aufnahmen von ihrem Haus und klopfte an der Tür, die Reggie und Lorraine nie öffneten. Das Telefon klingelte unaufhörlich, aber sie ließen immer den Anrufbeantworter anspringen.
Reggie ließ den Vorhang zufallen und untersuchte ihren Daumen.
Normalerweise war sie vorsichtiger. Hyperumsichtig, wenn es um Sicherheit ging. Glücklicherweise war der Schnitt nicht tief.
Sie hatte die Narbe von dem Schnitt, den Tara ihr zugefügt hatte, immer noch: eine dünne Linie auf der Rückseite ihrer Wade; das Mal, das andere bemerkten und nach dem sie sie manchmal fragten. (Sie erzählte ihnen, dass es bei einem Unfall mit dem Fahrrad passiert war.) Da waren auch andere Narben. Schwächere, blassere auf ihren Armen und Beinen. Phantomnarben, die sie nur manchmal sehen konnte.
Reggie hatte sich während ihrer gesamten Zeit in der Highschool weiterhin geschnitten. Sie hatte es heimlich
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