DAS 5. OPFER
dachte Reggie. Mich nicht bekommen hätte.
Reggie fühlte sich mit jeder Sekunde schlechter. Ihr Bein schmerzte. Der Verband fühlte sich feucht und klebrig an. Doch irgendwo unter dem Schmerz drängte ein anderer Gedanke an die Oberfläche. Etwas, was den ganzen Nachmittag da gewesen war, still vor sich hin geschwärt hatte und sich jetzt weigerte, weiter ignoriert zu werden.
»Wir haben noch etwas anderes auf dem Dachboden gefunden«, sagte Reggie. »Ein altes Theaterprogramm aus dem Herbst 1970. Sie hat in einem kleinen Theater in Hartford in Hexenjagd mitgespielt.
George war drüben beim Holz, transportierte ein weiteres Eichenbrett zum Abmessen zu den Sägeböcken. Er drehte sich um und starrte sie ausdruckslos an. »Ich denke nicht, dass ich das gesehen habe«, sagte er.
»Aber alle haben immer gesagt, dass sie in jenem Herbst in New York gewesen ist, kurz bevor sie nach Moniques Wunsch zurückzog. Das war ebenfalls eine Lüge, nicht wahr?«
George seufzte. »Sie war in New York gewesen. War direkt nach ihrem Highschool Abschluss weggegangen. Doch dann, am Ende des folgenden Sommers, kam sie zurück.«
»Warum?«, fragte Reggie.
George seufzte. »Ich schätze, ich kann es dir erzählen. Da wir heute alle Leichen aus dem Keller holen. Bo Berr bat sie zurückzukommen. Er richtete ihr ein kleines Apartment ein, versprach, dass er seine Frau verlassen und stattdessen Vera heiraten würde.«
Georges Stimme hatte einen wütenden Unterton, aber Reggie konnte nicht sagen, gegen wen er sich richtete: Vera oder Bo.
»Bo? Charlies Onkel?«
»Er hat Vera wirklich geliebt, hat er immer getan. Selbst damals in der Junior Highschool. Wahrscheinlich schon in der Grundschule. Wie auch immer, es hat nicht gehalten. Er hat ziemlich bald danach Schluss mit ihr gemacht und ist wieder bei seiner Frau eingezogen.«
»Aber wenn sie mit Bo zusammen war in diesem Herbst, dann bedeutet das …«
George starrte sie mit einem Pokerface an.
Sie wagte es nicht, den Rest laut auszusprechen.
REGGIE FUHR SO SCHNELL sie konnte ins Stadtzentrum, direkt zu Berr’s Ford. Sie kam verschwitzt und außer Atem an, der verbundene Schnitt an ihrem Bein brannte.
»Du bist ein bisschen jung, um zum Autokauf unterwegs zu sein, oder nicht, Regina?« Bo beäugte sie skeptisch, als sie durch den Raum zu ihm ging. Er lehnte an einem brandneuen Pick-up F-150, dessen zuckerapfelrote Farbe einen blendenden Glanz hatte. Sein Anzug war von einem staubigen Grau, der Stoff abgetragen und stellenweise blank. Ein weiterer Verkäufer saß an einem Schreibtisch in der Ecke; er blickte kurz von seinem Papierkram auf, kehrte aber sofort dazu zurück.
»Ich habe ein paar Fragen«, sagte Reggie, blieb direkt vor Bo stehen, beobachtete, wie er so selbstzufrieden, so geringschätzig auf sie herab lächelte. Es war ein Lächeln, das ihr sagte, dass sie ihm nichts bedeutete. Sie war so nah, dass sie ihn atmen hören, seine Nasenhaare sehen konnte, und dass sein Hemd am Kragen gelbe Flecken hatte. Auf seiner Krawatte war etwas, das wie Traubengelee aussah. Er leckte seine Lippen, seine Zunge berührte seinen überwuchernden Schnurrbart.
»Über den Herbst 1970. Als meine Mutter aus New York zurückkam.«
Da war ein leichtes Zucken in seinen Mundwinkeln, und sein Lächeln verschwand. »Lass uns in mein Büro gehen«, sagte er und gestikulierte mit einer seiner großen, quaderförmigen Hände. In der Highschool war er ein Football-Star gewesen; sie erinnerte sich daran, dass ihre Mutter das erwähnt hatte, als sie ihn im Fernsehen sahen, in einem seiner albernen Hühnerwerbespots. Er hatte vorgehabt, mit einem Football-Stipendium aufs College zu gehen, hatte sich aber im Abschlussjahr sein Knie ruiniert.
Reggie folgte ihm durch den Verkaufsraum zu dem großen Büro am Ende mit dem Glasfenster, das den Ausstellungsraum überblickte. Sein Schreibtisch war übersät mit Papieren. Da war ein gerahmtes Foto von Stu, seiner Frau und Sid. Da war eine weitere Aufnahme von Bo und Stu, draußen auf einem Boot, wie sie einen riesigen Fisch mit einer spitzen, speerähnlichen Schnauze – einen Speerfisch vielleicht – hochhielten. Sie sahen jung und gebräunt und glücklich aus. Da waren junge Frauen im Hintergrund, ihre Ehefrauen vielleicht, oder Freundinnen, die sie hatten, bevor sie ihre Ehefrauen trafen. Reggies Blick wanderte zu den Händler-des-Jahres-Tafeln an den Wänden. Gerahmten Briefen von Wohltätigkeitsorganisationen, die Bo dafür dankten, dass er sich so
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