DAS 5. OPFER
man weiß nie, was andere Leute denken, oder?«
Die Untertreibung des Jahres.
»Ich schätze, nicht«, sagte Reggie.
»Tu mir einen Gefallen«, sagte George und kehrte zur Arbeit zurück. »Hol dir Maßband, Vierkant und Stift. Wir werden die Teile für die Tür zuschneiden.«
Reggie ging hinüber zu der Werkbank mit ihren ordentlich aufgereihten Werkzeugen, nahm sich das Fünf-Meter-Maßband, das Vierkant aus Metall und den Zimmermannsbleistift mit seiner rechteckigen Mine.
George hatte ein knapp zwei Meter langes Stück Eiche auf den Sägeböcken liegen. »Mach Markierungen bei eins sechzig und fünf Achteln«, wies er sie an. Reggie maß das Brett ab, machte zuerst eine Stiftmarkierung auf der linken Seite, dann wieder, als sie auf der rechten Seite Maß nahm. Dann richtete sie das Vierkant akkurat aus und zog eine Linie, verband die Punkte. Sie wünschte, alles in ihrem Leben wäre so einfach und vernünftig wie das hier. Wenn nur Werkzeuge und Messungen ihr helfen könnten, ihre Mutter zu finden. Reggie hörte Taras Stimme in ihrem Kopf widerhallen: Der Sinn besteht darin, dass wir es weiter versuchen müssen, oder? Wenn wir mit dem Suchen aufhören, dann ist es vorbei.
»Gut«, sagte George. »Willst du das Zuschneiden übernehmen?«
Reggie nickte, griff nach der Sicherheitsbrille aus Klarglas. »George«, sagte sie, während sie die Brille aufsetzte. »Hat meine Mom irgendwas zu dir gesagt, über dieses neue Stück, in dem sie spielt? Den Namen der Theatergesellschaft oder so was?«
George schüttelte den Kopf, schien zu zögern, bevor er sprach. »Es gibt da Dinge, die du nicht weißt. Dinge, von denen Lorraine und ich denken, dass du sie jetzt erfahren solltest. Mit dem … Verschwinden … deiner Mutter, nun, da wird zwangsläufig eine Menge Kram an die Oberfläche kommen. Und mir wäre es lieber, wenn du es von mir hörst, statt es in der Zeitung zu lesen.«
George richtete sich auf und sah Reggie an.
»Welche Art von Dingen?«
»Deine Mutter hat seit deiner Geburt in keinem Stück mehr mitgespielt, Reg.«
»Was?«, stammelte Reggie. Sie starrte ihn durch die abgestoßenen Plastiklinsen der Sicherheitsbrille an. Sie fühlte sich plötzlich, als sei sie unter Wasser und würde schnell sinken.
George irrte sich. Er musste sich irren. Vera hatte seit Jahren in Stücken mitgespielt, das war es, womit sie die ganze Zeit so beschäftigt gewesen war.
»Aber sie hat an einem Stück in New Haven gearbeitet. Mit Rabbit.«
Er schüttelte den Kopf. »Es gibt kein Stück in New Haven. Es gibt vielleicht nicht einmal einen Rabbit. Falls doch, dann ist er kein Regisseur.«
Reggies Herz hämmerte. Sie wollte ihr gutes Ohr zuhalten, mit den Füßen aufstampfen wie ein Kleinkind, das einen Trotzanfall hat, sich weigern, weiter zuzuhören. Stattdessen räusperte sie sich und fragte mit kleinlauter Stimme: »Aber was hat sie getan, wenn sie nicht weg war, um zu proben?«
George wandte sich wieder dem Holz zu, hob die Kappsäge darauf, richtete das Blatt nach der Linie aus, die Reggie gezogen hatte. »Ich weiß es nicht genau. Getrunken, hauptsächlich, denke ich. Zeit mit ihren Freunden verbracht. Mit männlichen Freunden.« Er stieß die letzten beiden Worte mit Bitterkeit aus, klang so prüde und verurteilend wie Lorraine.
»Oh«, sagte Reggie, das Wort hatte einen hohlen Klang.
Sie dachte an das dreckige, verwüstete Zimmer im Effizienz am Flughafen, die Kakerlake und die Packung mit Kondomen.
Ihr Atem ging jetzt schwer und schnell. Tränen brannten in ihren Augen hinter den Brillengläsern, die dabei waren zu beschlagen.
Alles, was sie über ihre Mutter zu wissen glaubte, war eine komplette Lüge. Eine Lüge, die sie alle ihr Jahr für Jahr erzählt hatten, in dem Glauben, dass sie sie vor der Wahrheit beschützen würden.
»Mach ruhig, schneide es zu, Reg«, sagte George, und Reggie knipste die Säge an und senkte das Sägeblatt auf die Linie hinab, es fuhr in das Holz und machte ein kreischendes Geräusch. Als sie fertig war, stellte Reggie die Säge aus und trat zurück, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen.
»Deine Mutter war wunderbar auf der Bühne, Reggie. Ich wünschte, du hättest sie sehen können. Sie hatte diese … Präsenz. Es war wirklich faszinierend. Lorraine und ich reden immer noch davon. Darüber, was hätte passieren können, wenn sie dabei geblieben wäre, wenn sie die ganze Sache nicht einfach aufgegeben hätte.«
Du meinst, wenn sie nicht schwanger geworden wäre,
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