DAS 5. OPFER
kommen. Das ist einfach ein zu großes Zusammenprallen zwischen meinem früheren Leben und meinem jetzigen Leben, als dass ich jetzt damit fertig werden könnte. Und es gibt sowieso nichts, was du tun könntest. Es geht mir wirklich gut.«
»Du klingst nicht so«, sagte Len; seine Stimme war herzlich und heiser. Sie wünschte sich, er wäre da, würde sie in seinen Armen halten.
»Wieder hier zu sein, ist nicht leicht gewesen«, gab Reggie zu.
Len machte ein beruhigendes Geräusch der Zustimmung. »Du hast dein ganzes Leben damit verbracht, vor diesem Ort und allem, was dort passiert ist, wegzulaufen«, sagte er.
»Und jetzt bin ich hier. Wieder da und mittendrin. Auf manche Weise fühle ich mich, als wäre ich nie weggegangen. Oder als wäre ich in der Zeit zurückgegangen und wieder ein Teenager geworden.« Sie fing an, an dem Schnitt an ihrem Daumen herumzupulen, sah, wie er sich wieder öffnete und erneut zu bluten begann.
»So schmerzhaft dies alles ist, ich weiß, dass es gut für dich sein wird«, sagte Len. »Du stellst dich deinen Dämonen. Du wirst stärker daraus hervorgehen.«
Reggie seufzte. »Das kann man wohl sagen, dass ich mich Dämonen stelle. Ich werde heute losfahren, um diesen alten Hurensohn Bo Berr zu treffen. Er war der Freund meiner Mom in der Highschool. Ihm gehörte die Ford-Verkaufsvertretung in der Stadt. Er ist höllisch verschlagen, ein echter Mistkerl.«
»Warum stattest du ihm dann einen Besuch ab?«
»Erinnerst du dich an das braune Auto, in das ich meine Mom in der Nacht, als sie entführt wurde, steigen sah? Ich denke, wir haben Bo mit diesem Auto in Verbindung gebracht. Wenn er etwas weiß, werden wir es herausfinden.«
»Wir?«
»Charlie nimmt mich mit zu ihm. Bo ist Charlies Onkel.«
»Warte eine Sekunde, der Charlie? Dein berühmt-berüchtigter Teenagerschwarm?«
Reggie seufzte. Vielleicht hatte sie Len bereits zu viel über ihre Vergangenheit erzählt.
»Das war in einem anderen Leben. Wir waren dreizehn. Jetzt ist er dieser langweilige Kerl mit Bauchansatz und dünner werdendem Haar, der Immobilien verkauft. Aber er will Tara genauso sehr finden wie ich.«
»Das ist Scheiße, Reggie. Du willst ernsthaft in der Stadt herumfahren und nach einem Serienmörder suchen?«
»Ich werde vorsichtig sein«, sagte Reggie. »Sieh mal, Charlie wird jeden Augenblick hier sein. Ich muss aufhören. Ich werde dich später anrufen, okay?«
»Versprochen?«, fragte er. »Denn wenn ich nichts von dir höre, dann werde ich zu dir kommen.«
»Ich verspreche es«, sagte sie und legte auf, bevor er noch mehr sagen konnte.
34 22. Juni 1985 – Brighton Falls, Connecticut
WO IST LORRAINE?« REGGIE war in die Küche heruntergekommen und hatte dort George vorgefunden, der den Abwasch machte. Seine Kleidung war zerknittert, seine Augen rot und verschwollen. Er sah aus, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen.
»Sie hat sich hingelegt. Ist deine Freundin weg?«
Reggie nickte.
George zog den Stöpsel aus der Spüle und schickte das seifige Wasser in einem Strudel durch den Abfluss. »Deine Tante hält nicht viel von ihr. Ich fürchte, Lorraine fühlt sich von ihrem Modegeschmack abgestoßen. Von all dem Schwarz. Der Spitze und den Sicherheitsnadeln.«
Reggie zuckte die Achseln. »Wenigstens hat Tara einen Modegeschmack.« Sie ließ das aus, was sie dachte: nicht wie Lorraine, mit ihrer stinkigen, alten Fischerweste. Sie wollte Georges Gefühle nicht verletzen – er mochte die Fischerweste anscheinend, fand sie vielleicht sogar anziehend. Reggie beendete diesen Gedanken, bevor sie ihn weiterverfolgen konnte. Die ganze Vorstellung, dass Lorraine und George eine geheime Romanze hatten, verursachte ihr Magenschmerzen.
George lächelte. »Habt ihr zwei irgendetwas Interessantes oben auf dem Dachboden gefunden?« Er blickte sie mit forschenden Augen an, und für den Bruchteil einer Sekunde war Reggie sicher, dass er von den Schnitten wusste. An ihrem Bein verspürte sie einen stechenden Schmerz, und es fühlte sich feucht an. Tara hatte tief geschnitten. Der Schnitt war jetzt mit einem Mullbausch und Schichten von Klebeband bedeckt, das juckte und an ihrer Haut zerrte.
»Nicht viel«, sagte sie und sah weg.
»Komm, setz dich«, sagte er und zog einen Stuhl unter dem Küchentisch hervor. Sie setzte sich ihm gegenüber. Er sah sie lange Zeit an, nahm dann seine Brille ab und rieb sich mit seinen feuchten, schrumpeligen Spülwasserhänden das Gesicht. Er setzte seine Brille vorsichtig
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