DAS 5. OPFER
essen«, sagte Lorraine.
Reggie schüttelte den Kopf. »Vielleicht, wenn ich zurückkomme.«
Reggies Mobiltelefon klingelte. Sie erkannte die Vorwahl von Massachusetts und ging dran.
»Hallo?«
»Miss Dufrane. Hier spricht Schwester Dolores von Unser Haus in Worcester. Ich habe gehört, dass Sie versucht haben, mich zu erreichen.« Ihre Stimme war leise und ruhig, mit einem leichten Kratzen darin.
»Ja«, sagte Reggie. »Vielen Dank, dass Sie mich zurückrufen.«
»Wie geht es Ihrer Mutter?«, fragte Schwester Dolores.
»Ihr geht es gut. So gut, wie unter den Umständen erwartet werden kann. Sie hat viel über Sie geredet, seit sie nach Hause gekommen ist. Sie scheint große Stücke auf Sie zu halten. Ich wollte Ihnen danken. Dafür, dass Sie für sie da waren, als wir es nicht sein konnten.«
»Mmh«, sagte Schwester Dolores verständnisvoll. »Ich habe für sie gebetet. Können Sie ihr das bitte sagen?«
»Das werde ich, Schwester. Ich habe mich gefragt, ob es noch irgendetwas anderes gibt, was Sie mir über meine Mutter sagen können.«
»Wie zum Beispiel?«
»Wie sie zu Ihnen gekommen ist. Ob sie jemals etwas über ihre Vorgeschichte gesagt hat.«
Schwester Dolores schwieg einige Sekunden. »Miss Dufrane«, sagte sie schließlich. »Ich leite eine Einrichtung mit einhundert Betten. Ich mache das jetzt seit über zwanzig Jahren. Ich habe gelernt, nicht in den Angelegenheiten anderer Menschen herumzuschnüffeln. Die Menschen, denen wir dienen, haben nicht das glücklichste Leben gehabt. Wenn sie wollen, dass ich erfahre, was sie in unser Haus gebracht hat, werden sie es mir beizeiten sagen.«
»Meine Mutter war in den letzten beiden Jahren immer wieder bei Ihnen, nicht wahr? Und sie hat offensichtlich sehr viel von Ihnen gehalten. Sie muss etwas gesagt haben.«
»Oh, sicher. Sie hat jede Menge Dinge gesagt. Sie sagte mir, ihr Name sei Ivana. Dass sie Schauspielerin gewesen sei.«
»Hat sie nie etwas darüber gesagt, wie sie ihre Hand verloren hat? Über Neptun?«
»Nichts. Genau wie ich dem Detective gesagt habe, der hier auftauchte – sie hat nie viel darüber geredet, von wo sie gekommen ist. Es war, als wäre sie vom Himmel gefallen.«
»War es ein Detective aus Brighton Falls?«, fragte Reggie. »Ein junger Mann? Edward Levi?«
»Nein, nein. Es war ein älterer Mann. Sehr angenehm. Ich fürchte, ich konnte ihm überhaupt nicht weiterhelfen, aber es schien ihm nichts auszumachen, obwohl er den ganzen Weg hergefahren war. Detective Berr, das war sein Name. Ich kann mir vorstellen, dass Sie ihn kennen.«
»Ja«, schaffte Reggie trotz ihrer zugeschnürten Kehle zu sagen.
»Ein furchtbar netter Kerl. Ich wünschte, ich hätte ihm mehr sagen können.«
39 23. Juni 1985 – Brighton Falls, Connecticut
CHARLIE WARTETE im Flur vor der Tür der Damentoilette auf Reggie, betrachtete die Postkarten und Schnappschüsse an der Wand.
Hallo aus Reno. Get Your Kicks on Route 66. Grüße aus dem Roadkill Café.
Reggie wäre beinahe mit ihm zusammengestoßen.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Ich hatte gehofft, du könntest mit Tara reden. Ihr sagen, dass sie es mit Sid ein wenig langsamer angehen lassen sollte.«
Reggie blickte über Charlie hinweg nach draußen zu dem Tisch im hinteren Bereich, wo Sid und Tara herummachten. Tara saß praktisch auf seinem Schoß und küsste ihn. Sid leckte an ihrem Mund wie ein allzu freundlicher Hund. Reggie drehte sich der Magen um, aber sie konnte nicht aufhören zuzuschauen.
»Warum sollte ich?«
Sid tastete jetzt nach Taras Brust, und Tara schob seine Hand weg, sagte etwas, was ihn zum Lachen brachte. Dann küssten sie sich weiter.
Charlie sah wütend und verzweifelt aus. »Weil er nicht gut für sie ist, und du weißt es.«
»Vielleicht ist er das, was sie will«, sagte Reggie. »Jemand, der denkt, dass er so ein harter Typ ist, wie sie es sein will.«
»Aber Tara ist nicht wirklich so«, jammerte Charlie. »Ich denke, dass sie ziemlich normal ist. All dieses Kaputtes-Mädchen-Zeug … das spielt sie bloß.«
Reggie hatte das alles so satt. Die Dinge, die Leute über andere Leute wussten (oder zu wissen glaubten). Vielleicht hatte jeder ein geheimes Leben, nicht bloß Vera. Plötzlich hasste sie das alles. Sie wollte, dass die Leute so durchsichtig waren wie Aquarien, kein trübes Wasser mehr, keine Irreführung. Wollte keine Lügen und keine Verarschung mehr. Keine geheim gehaltenen Zimmer oder Lügen darüber, der Star irgendeines gottverdammten Stücks zu
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