DAS 5. OPFER
sie sprach nicht.
»Küsste die Mädchen«, sagte Reggie.
»Und brachte sie zum Weinen«, sagte ihre Mutter.
»Ich erinnere mich, Mom. An alles, was du früher über George zu sagen pflegtest. Dass er dich liebte, dich aber nicht haben konnte. Ich erinnere mich, wie du über George und seine Enten sprachst; du hast dich dauernd über ihn lustig gemacht, gesagt, es wäre unnormal, wenn ein erwachsener Mann seine ganze Zeit damit verbringt, diese verdammten Holzenten herzustellen.«
Vera lächelte. Ihre Lippen waren trocken und aufgesprungen.
»Einmal hast du ihn dann gefragt, du sagtest: ›Wie kommt es, dass du nie eine solche Ente für mich gemacht hast, George?‹ Also hat er dir ein paar Tage später eine Schachtel gegeben und du hast sie geöffnet und diesen winzigen, schön geschnitzten, hölzernen Schwan hervorgeholt. ›Die ist anders als alle Enten, die ich je gesehen habe‹, hast du zu ihm gesagt. Und er sagte: ›Ja, das ist sie. Es ist das hässliche Entlein. Ihr ganzes Leben denkt sie, dass sie nicht dazugehört. Dann wächst sie heran, und ihr wird bewusst, dass sie in Wirklichkeit ein schöner Schwan ist.‹«
Reggie hatte Tränen in den Augen, während sie diese Geschichte erzählte, sich daran erinnerte, wie George ihre Mutter angesehen hatte, die Art, wie sie den Schwan so vorsichtig gehalten hatte, als wäre er aus Glas. Den kleinen hölzernen Schwan, den Reggie vor all den Jahren in ihre Erinnerungskiste gepackt hatte, nachdem ihre Mutter vom Rest der Welt für tot erklärt worden war.
»George ist mein Vater, nicht wahr?«
Vera blickte hinab auf ihre Bettwäsche, als könnte die Antwort dort zu finden sein.
»Bitte, Mom«, flehte Reggie.
»Mir ist kalt«, sagte Vera.
»Ich hole dir eine weitere Decke«, sagte Reggie und ging zum Schrank.
»Wenn es hier kalt ist, dann ist es in Argentinien heiß«, sagte Vera.
»Nun«, sagte Reggie und breitete eine weitere Decke über ihre Mutter. »Ich denke nicht, dass wir da so schnell hinkommen werden.«
»Oh, es ist nicht weit weg«, sagte Vera und schloss ihre Augen. »Eva Perón lebt dort. Und sie bauen dort die wunderbarsten Birnen an.«
»Das ist schön«, sagte Reggie, steckte die Ränder der Decke fest und beobachtete, wie ihre Mutter wegdöste.
REGGIE SCHLICH SICH AUS dem Zimmer und über den Flur zu ihrem Schlafzimmer. Sie nahm die Erinnerungskiste vom Schrank herunter und holte den hölzernen Schwan, Georges Geschenk an Vera, hervor. Sie fuhr mit ihren Fingern über die zarte Kreuzschraffur der Federn, die weiche Wölbung seines langen Halses. Der Schwan war aus Weichholz geschnitzt, Tanne, schätzte sie. Reggie steckte den Schwan vorsichtig in ihre Umhängetasche. Sie hoffte nur, dass die Papiere, die sich darin befanden, ausreichten, um Tara zu retten. Es war der letzte Tag, und die Zeit lief ab. Sie blickte zum tausendsten Mal auf ihre Armbanduhr. Noch eine Stunde, bis Len ankommen sollte. Sollte sie warten und mit ihm zusammen zur Wache gehen? Sie nahm ihr Mobiltelefon heraus und wählte seine Nummer, aber der Anruf ging direkt auf die Mailbox.
»Ich bin’s«, sagte sie. »Ich habe mich nur gefragt, wann du wohl voraussichtlich ankommen wirst. Ruf mich an, wenn du die Stadt erreichst, dann werde ich dir eine vernünftige Wegbeschreibung geben.«
Er konnte überall sein. Und jede Sekunde zählte. Je schneller sie der Polizei die Informationen zukommen ließ, desto größer war die Chance, Tara lebend zu finden. Und falls sie ihr nicht glaubten, sich sogar weigerten, ihr auch nur zuzuhören, dann würde sie Charlie anrufen und herausfinden, wo Stu sein Boot liegen hatte. Sie und Len würden zur Küste hinunterfahren, Stu finden und ihm folgen, bis er sie zu Tara führte. Das war nicht der großartigste Plan, aber es war besser als nichts.
Sie steckte das Telefon in ihre Tasche, als ein Kältehauch sie anwehte, eine kühle Brise, die durch das Fenster blies, das sie einen Spalt offen gelassen hatte. Sie schloss es. Ihr Schraubenzieher lag immer noch auf dem Fenstersims. Sie ließ ihn in ihre Umhängetasche fallen. Sie würde ihn zurück in den Werkzeugkasten legen, wenn sie hinunter zu ihrem Truck kam.
»Alles in Ordnung?«, fragte Lorraine, als Reggie nach unten und in die Küche ging.
»Großartig. Mom schläft.«
»Ich denke, ich mache für uns alle etwas zum Mittagessen«, sagte Lorraine.
»Nicht für mich, danke«, sagte Reggie. »Ich muss los und ein paar Dinge erledigen.«
»Sicher hast du Zeit, einen Bissen zu
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