DAS 5. OPFER
Connecticut
REGGIE TRAT IN DIE PEDALE ihres Peugeot-Rads, als sie durch die Stadt fuhr. Die Sonne ging gerade erst auf, ließ den Himmel im Osten, drüben Richtung Flughafen, Mars-Rot aufleuchten. Reggie fühlte sich, als wäre sie auf irgendeinem anderen Planeten. Es waren kaum Autos auf den Straßen, nur ein gelegentlicher Lieferwagen, der frisches Brot, Milch und Benzin in die Stadt brachte. Ein paar Pendler waren unterwegs, um früh anzufangen, fuhren zu den Büros in Hartford, bevor der Verkehr zu schlimm wurde. In einigen Häusern waren die Lichter an, und Reggie konnte die Bewegungen durch die gardinenlosen Fenster sehen: eine Frau, die das Frühstück vorbereitete, ein Mann in Boxershorts, der den Fernseher anstellte. Rasensprenger liefen, sorgten dafür, dass das Gras ein perfektes grünes Meer blieb. Die Straßenbeleuchtung war noch an, und als sie in die Innenstadt kam, war es ein wenig so, als wäre sie in einem von diesen Zombiefilmen, in dem man einer der letzten Überlebenden ist. Die Läden waren alle leer, die Fenster dunkel, wie geschlossene Augen. Da war dieses Gefühl, als würde die Stadt den Atem anhalten, warten.
Sie sah wieder zum Sonnenaufgang hin, den Rosa- und Rottönen, die sich über dem Horizont ergossen, und erinnerte sich an Sids Blut auf dem Asphalt gestern Abend. Sie schloss für eine Sekunde fest ihre Augen, schob alles von sich.
Sie umrundete die Straßen der Innenstadt, überprüfte jeden mit Gras bewachsenen Bereich, jede Fassade. Sie kam an einem Streifenwagen der Polizei vorbei und wusste, dass die Cops dasselbe taten. Sie trat kräftiger, schneller in die Pedale. Sie wollte nicht, dass irgendein uniformierter Cop, ein völlig Fremder, der eine Pistole und ein Sprechfunkgerät an seinem Gürtel trug, derjenige war, der Vera fand. Reggie musste die Erste sein, sie würde ihre Jacke ausziehen, um den nackten Körper ihrer Mutter zu bedecken, bevor die Horden von Schaulustigen kamen – Fotos knipsten, unter Veras Nägeln kratzten, ihr Haar kämmten, auf der Suche nach Beweisfetzen. Aber was Reggie vor allem tun würde – was sie tun musste – war, sich zu entschuldigen. Sie hatte ihre Mutter im Stich gelassen. Wenn sie klüger gewesen wäre, besser aufgepasst hätte und eine bessere Tochter gewesen wäre, dann hätte sie sie vielleicht rechtzeitig gefunden.
Jetzt würde sie nicht nur die Tochter eines Mordopfers sein, sondern auch selbst eine Mörderin. Eine Komplizin zumindest. Wenn sie die Dinge gestern Abend nicht so vermasselt hätte, indem sie ihre eigenen selbstsüchtigen Gefühle die Kontrolle hatte übernehmen lassen, dann hätten die Dinge sich vielleicht anders entwickelt.
Da sie nicht in der Lage war, in der Innenstadt eine Spur von ihrer Mutter zu finden, überquerte Reggie die Main Street und machte sich auf den Weg Richtung Flughafenstraße. Während sie fuhr, tauchten Bilder der letzten Nacht in ihrem Kopf auf: Wie Sid so hinfiel, dass er mit einem Krachen auf das Pflaster aufschlug, Tara, die zu ihnen allen sagte, sie sollten weglaufen. Ihr Magen rumorte, als sie sich daran erinnerte, wie sie drei gerannt waren, ohne miteinander zu sprechen, und wie sie dann an einer Abzweigung alle getrennte Wege gegangen waren, während Tara ihnen zurief: »Denkt daran, das ist nie passiert.«
Denkt daran.
Es war ein Unfall gewesen, ja, aber wegzulaufen war falsch gewesen. Reggie wusste das. Sie hatte es die ganze Zeit gewusst, war aber zu benommen gewesen, zu verängstigt, um Tara die Stirn zu bieten. Jetzt wurden sie wahrscheinlich alle wegen Mordes gesucht.
Reggie radelte an den Tabaklagerhäusern vorbei, wo gerade die ersten Männer zur Arbeit eintrafen. Einer von ihnen pfiff, als sie vorbeifuhr, kein Pfeifen für eine sexy Lady, sondern es klang eher wie etwas, was man tut, um einen Hund zu rufen. Reggie hielt ihren Blick auf die Straße vor sich gerichtet, schaute nicht zurück.
Sie kam an der Werbetafel vorbei, auf der immer noch Candace Jacques riesiges Gesicht war. HABEN SIE MICH GESEHEN ? Gott, warum hatte es nicht jemand abgenommen?
Und bald würde ihre Mutter an der Reihe sein. Reggie stellte sich Veras Bild in der morgigen Zeitung vor: NEPTUNS VIERTES OPFER, VERA DUFRANE . Und was würden sie über sie sagen? Sicher würden die Reporter nicht lange brauchen, um die Wahrheit auszugraben. Sie würden das mit dem schmutzigen kleinen Zimmer im Effizienz-am-Flughafen-Motel herausfinden. Der gescheiterten Schauspielkarriere. Der Liste von Männern. Den Bars.
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