DAS 5. OPFER
drehende Schatten auf den fleckigen und gesprungenen Betonboden. Ein alter Holztisch stand in der Nähe von Tara. Weiter hinten, hinter dem Tisch, standen einige kaputte Ausrüstungsteile – alte Lastwagenachsen, das Vorderteil eines Gabelstaplers, eine verrostete Zugseilmechanik.
Hier und dort verteilt lagen Stapel von Transportpaletten und alte hölzerne Steigen. Es waren Obst- und Gemüsesteigen, wurde Reggie klar. PRODUKT AUS ARGENTINIEN , stand auf der, die ihr am nächsten lag. Darauf befand sich ein farbenfrohes Etikett, das eine dunkelhaarige Frau mit verführerischen Augen zeigte, die eine große, saftige Birne hielt. Sie blickte eine andere Frau an, die eine Hand voll blauer Trauben mit Smiley-Gesichtern vorzeigte und zu singen schien. Der Text hing in der Luft über ihnen, umgeben von Noten: DAS WETTER IN ARGENTINIEN IST IMMER SCHÖN .
Ein Kälteschauer durchfuhr Reggie.
Er hatte ihre Mutter an genau diesen Ort gebracht. Wahrscheinlich auch die anderen Frauen.
Sie stellte sie sich vor, die Gesichter, die sie erst Stunden zuvor an Stu Berrs Wand gesehen hatte: Andrea McFerlin, Candace Jacques, Ann Stickney. Sie alle hatten ihre letzten Tage auf dieser Welt hier verbracht, an diesem schmutzigen, kalten Ort, der nach verfaulendem Obst und Öl stank, nach vergessenen und verdorbenen Dingen. Sie hatten hier unter der gewölbten, kathedralähnlichen Decke auf ihren Rücken gelegen, festgebunden und gefangen in dieser pervertierten Kirche des Neptun.
Sie hob ihren Kopf, um Tara anzusehen. »Warst du wach, als er dich herbrachte? Erinnerst du dich an irgendetwas an der Außenseite des Gebäudes?«
»Nein, aber wir müssen mitten im verfluchten Nirgendwo sein. Am Anfang habe ich geschrien und geschrien. Aber es ist nie jemand gekommen.«
Reggie lauschte, hörte Flugzeuge über sich, die von irgendwo hinter ihr kamen oder dort wieder hinflogen. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. 2:15 Uhr. Die Sonne stand direkt hinter dem sich drehenden Ventilator. Sie schätzte, dass sie sich ein paar Meilen westlich des Flughafens befanden. George besaß ein paar alte Lagerhäuser draußen am Ende der Flughafenstraße. Sie mussten sich in einem davon befinden.
»Wie lange war ich ohnmächtig?«, fragte Reggie.
»Nicht lange. Zehn, fünfzehn Minuten. Ich habe den Wagen draußen gehört. Dann, ein paar Minuten später, trug er dich herein. Wie lange bin ich jetzt überhaupt hier?«, fragte Tara. »Ich habe den Überblick verloren.«
Reggie dachte daran, zu lügen, konnte es aber nicht. »Es ist Tag vier«, sagte sie.
Tara ließ ihren Kopf ganz nach unten fallen und schloss ihre Augen. »Jetzt wird es nicht mehr lange dauern«, sagte Tara, ihre Stimme war bemerkenswert gelassen und sachlich.
»Woher wusstest du, dass es George war?«, fragte Reggie.
»Ich wusste es nicht mit Sicherheit«, sagte Tara. »Vera regte sich eines Nachts furchtbar auf. Es war direkt nachdem er sie besucht hatte. Sie hat immer wieder gesagt, dass sie nicht zurückgehen würde, dass er sie nicht zwingen könne. Wir waren die halbe Nacht wach und ich verstand nicht viel von dem, was sie sagte, aber ich hatte genug gehört, um auf den Gedanken zu kommen, dass George Neptun war und dass er sie, bevor sie in dem Obdachlosenasyl auftauchte, irgendwo gefangen gehalten hatte. Ich ging zu Charlies Dad, aber er war nicht zu Hause.«
»Warum bist du zu ihm gegangen? Er ist im Ruhestand.«
»Ich rechnete mir aus, dass niemand alle Einzelheiten des Neptunfalles besser kannte als Stu Berr. Ich dachte, er würde wissen, was zu tun ist. Aber … George hat mich eingeholt.« Sie schwieg einen Moment. »Ich schätze, Lorraine hatte ihm erzählt, wie aufgebracht Vera gewesen war und dass ich die ganze Nacht mit ihr wach geblieben war. Ich weiß nicht, irgendwie hatte er herausgefunden, dass ich es herausgefunden hatte – vielleicht mit seinen verfluchten übersinnlichen Serienmörderfähigkeiten. Er hat mich eingeholt und ist auf mich gesprungen und hat mich praktisch zu Tode gewürgt –ich dachte in dem Moment, ich wäre tot, aber ich bin hier aufgewacht. Er hat mir Dinge gesagt. Er ist verrückt, Reggie. Auf beängstigende Weise und vollkommen bekloppt. Nach dem, was er und Vera mir erzählt haben, hat er deine Mutter jahrelang in irgendeinem kleinen gemieteten Zimmer in Worcester, nicht weit von einem seiner Lagerhäuser entfernt, festgehalten. So getan, als wäre sie seine Frau. Ihr gesagt, dass er, sollte sie jemals dort weggehen, sich dich holen
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