DAS 5. OPFER
Rest der Welt. Das Leben war ein großes Abenteuer, und alles war möglich. Sie konnten auf der Windhunderennbahn landen, wo Vera Reggie Geld auf den Hund ihrer Wahl setzen ließ, zum Bushnell Park in Hartford fahren, um Karussell zu fahren, oder zum Meer, nur um gebratene Muscheln zu essen.
»Die Welt liegt uns zu Füßen«, sagte Vera dann und wischte sich Remouladensauce vom Kinn.
Den Vega gab es nicht mehr, er hatte sich in Schrott und Rost verwandelt.
Reggie fragte sich, ob sie und ihre Mutter einander überhaupt wiedererkennen würden.
Sie versuchte, sich den Stumpf vorzustellen, an dem die rechte Hand ihrer Mutter gewesen war – die Hand, die einst den Rhythmus jedes Songs im Radio mitgeklopft hatte, die Hand die beim Eislaufen auf dem Ricker’s Pond ihre gehalten hatte.
Reggie schob ihr Haar zurück, ihre Finger fanden den kleinen Halbmond aus Narben hinter ihrer Ohrprothese.
Vielleicht, dachte sie, als sie ihr eigenes Narbengewebe fühlte, würden sie einander an dem erkennen, was ihnen fehlte.
4 26. Mai 1985 – Brighton Falls, Connecticut
DAS OHR BEHÄLST DU« , sagte Charlie, als er es das erste Mal sah. »Dann kannst du jetzt vielleicht etwas mit diesem Mop machen.« Charlie zerzauste Reggies lange Haarsträhnen, entzündete Funken an ihrer Kopfhaut und sandte sie ihre Wirbelsäule hinab, verwandelte sie in ein glühendes, unter Strom stehendes Mädchen.
Sie befanden sich oben im Baumhaus in Reggies Garten und sahen sich die Pläne an, die Reggie für seine Renovierung gezeichnet hatte. Die Sonne schien durch die Plane über dem unvollendeten Dach, tauchte alles in ein unheimliches, blaues Licht.
»Du solltest dir echt die Haare schneiden lassen, Reg«, sagte Tara. Sie lag auf dem Rücken auf einem Schlafsack, rollte herum und wühlte in ihrem verlotterten Matchsack nach dem Päckchen Zigaretten, das sie ihrer Mutter gemopst hatte. »Geh zu Dawn, drüben beim Hair Express. Sie macht meine Haare.« Taras Haare waren hinten lang und vorne kurz und stachelig; schwarz gefärbt mit blonden Spitzen. Sie hatte vier Ohrringe in ihrem linken Ohr und zwei in ihrem rechten. Sie trug dunklen Eyeliner, aber kein anderes Make-up. Mit ihrem blassen, hageren Gesicht und den Waschbärenaugen sah sie ein wenig wie eine Untote aus, was der Grund war, warum alle in der achten Klasse sie als Vampir bezeichneten.
»Das habt ihr richtig verstanden«, sagte sie zu den beliebten Mädchen mit ihren ausgebleichten Jeans und dem fröhlichen blauen und rosafarbenen Augen-Make-up. »Legt euch mit mir an, und ich komme nachts durch euer Fenster geflogen und sauge euch aus.« Die Kids hielten sich zum größten Teil von Tara fern, genau wie sie sich von Reggie fernhielten – dem merkwürdigen, einohrigen Mädchen ohne Vater, das in einem gruseligen Steinhaus wohnte. Charlie, ein nervöser, spindeldürrer Junge, von dem alle sagten, er wäre schwul, war auch ein Außenseiter. Reggie kannte ihn schon ihr ganzes Leben – sie lebten zwei Straßen voneinander entfernt, waren zusammen in die Vorschule gegangen – und sie wusste, dass Charlie Mädchen mochte. Alles, was man tun musste, war, die Art zu bemerken, wie er Tara ansah – seine braunen Augen waren dann seltsam glasig und voller Verlangen.
Tara zündete eine Zigarette an, blies den Rauch durch ihre Nase hinaus, spielte dann mit dem Feuerzeug herum. Sie war eine von diesen Personen, die immer etwas in den Händen haben mussten. Wenn sie nicht rauchte, Karten mischte oder Gedichtzeilen kritzelte, spielte sie mit dem winzigen Sanduhr-anhänger um ihren Hals, beobachtete, wie der rosafarbene Sand durchlief, drehte ihn dann um, um es sich noch einmal anzusehen.
Tara trug ein enges, schwarzes T-Shirt mit einem V-Ausschnitt und langen Ärmeln, das Risse hatte, die von Sicherheitsnadeln zusammengehalten wurden. Sie zerriss die meisten ihrer Kleidungstücken und setzte sie dann wieder zusammen, mit groben Stichen, Sicherheitsnadeln, sogar mit Heftklammern. Sie tat so, als würde sie nicht bemerken, dass Charlie regelrecht nach ihr lechzte, während er auf ihre Brust starrte. Sie trug bereits einen BH mit Körbchengröße B, während Reggie so flach war, dass sie immer noch einen Trainings-BH tragen konnte, wenn sie sich überhaupt die Mühe machte, einen BH zu tragen. Reggie warf einen verlegenen Blick auf ihr eigenes weites, graues T-Shirt, das Lorraine irgendwo im Ausverkauf mitgenommen hatte.
»Kann ich einen Zug haben?«, fragte Charlie, was dumm war, weil er
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