DAS 5. OPFER
sie wusste, dass Len auf eine Weise, so betrunken er auch war, recht hatte.
»Ich sage bloß, ich denke, dass es traurig ist, das ist alles. Dass du wegen eines psychotischen Schweins dein ganzes Leben lang Angst haben wirst, jemandem zu nahezukommen.«
»Das ist nicht fair, und du weißt es«, zischte Reggie.
»Fragst du dich nie, wohin all das führen wird?«, fragte er.
»Was alles?«
»Das hier«, sagte er und machte eine flatternde Geste mit seinen Armen, die das Bett und sie beide einschloss. »Du und ich. Gott, ich bin fünfundvierzig, Reggie. Werden wir das in zwanzig Jahren immer noch machen, dann und wann miteinander ins Bett schlüpfen, ohne Bedingungen, ohne Verpflichtungen?«
Reggie blinzelte ihn an. »Was willst du damit sagen?«
»Dass es vielleicht an der Zeit ist, dass wir etwas mehr miteinander haben. Etwas, das über eine Fickfreundschaft hinausgeht.«
Reggie zuckte ein wenig zusammen angesichts von Lens Definition ihrer Beziehung. »Wie soll das aussehen?«
»Ich dachte daran, dass wir zusammenziehen könnten.«
Reggie lachte krächzend. Das war höchstwahrscheinlich das Absurdeste, das er jemals zu ihr gesagt hatte, und es hatte sie völlig unvorbereitet getroffen.
Len sah niedergeschmettert aus.
»Das meinst du nicht ernst, oder?«, sagte Reggie. »Was, du willst, dass ich dir jeden Abend deine Hausschuhe und deine Pfeife bringe und dann den Auflauf aus dem Ofen hole?« Sie dachte an ihr Haus, ihr perfektes, kleines Haus, das sich langsam mit Gegenständen von Len füllte: dreckigen Schuhen, zerknüllten Skizzen, Kippen von den Joints, die er ständig rauchte.
Len schüttelte den Kopf, griff nach der fast leeren Weinflasche und nahm einen großen Schluck.
»Ich hätte wissen sollen, dass du so reagieren würdest«, sagte Len, lehnte sich in sein Kissen zurück und schloss die Augen. »Es ist alles da auf deinem Chart – deine Angst vor Verpflichtung, dein Erfolg, deine Albträume, deine Intuition. Dein Bedürfnis, jede Situation kontrollieren zu müssen, das Sagen zu haben.« Seine Stimme verlor sich. »All die Dinge, die dich zu der machen, die du bist. Die Dinge, die dich so …« Er war jetzt fast eingeschlafen, seine Stimme leise und nur noch ein Hauch. »So verdammt unmöglich machen.«
Reggie schloss fest ihre Augen und sah diesen kleinen, blauen Dreizack in ihrem zwölften Haus. Sie rollte sich herum, sodass sie mit dem Gesicht auf dem Kissen lag, während sie Len dabei zuhörte, wie er leise neben ihr schnarchte. Und sie war sicher, dass sie es in diesem Augenblick fühlen konnte: dieses kleine Teil von Neptun in ihrem Inneren, wie ein Angelhaken, der zustach und sie daran erinnerte, dass sie nicht dazu geeignet war, mit irgendjemandem zu leben.
REGGIE FUHR AN DER ALTEN Antiquitätenscheune, dem Maple Leaf Inn und Hotel und der Hase-auf-dem-Mond-Glas-bläserei vorbei. Zwanzig Minuten später blinkte sie, um in die Auffahrt zur 89 nach Süden, der Straße Richtung Boston, einzubiegen. So viel sie auch reiste, die Wahrheit war, sie hasste es jedes Mal, Vermont zu verlassen. Sobald sie die Staatsgrenze überquerte, kribbelte die Haut an ihrem Nacken. Die Werbeschilder, vierspurigen Bundesstraßen und Wolkenkratzer verursachten bei ihr ein vorübergehendes Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, sorgten dafür, dass sie unfähig wurde, Entscheidungen zu treffen, aufmerksam zu sein oder sich zu konzentrieren. Sie hasste die Gleichförmigkeit der Kettenrestaurants und großen Supermärkte, der »gesamtplanerisch gestalteten Gemeinden« aus übergroßen, identischen, hässlichen Häusern, die über Nacht aus dem Boden schossen wie abscheuliche Ansammlungen von Pilzen.
Sie drehte das Radio auf, lauschte ernsten Stimmen, die über die globale Wirtschaft sprachen. Das war nicht das Richtige für eine Autofahrt. Sie wechselte den Sender, bis sie die Kingsmen erwischte, die »Louie, Louie«, sangen.
Fine little girl waits for me Catch a ship across the sea
Sie saß wieder im Vega ihrer Mutter, die Musik schallte aus den knisternden Lautsprechern, ihre Mutter schlug den Takt mit den Fingern am Lenkrad, formte lautlos die Worte des Songs, mit perfektem Lippenstift. Die Fenster waren heruntergekurbelt, der Wind blies ihnen durchs Haar, ließ sie sich fühlen, als würden sie fliegen.
»Wohin fahren wir, Mama?«
Ihre Mutter lächelte ihr geheimes, verschwörerisches Lächeln. »Wohin auch immer der Wind uns trägt, Liebes.«
Wenn sie allein miteinander waren, gab es nur sie beide gegen den
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