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DAS 5. OPFER

DAS 5. OPFER

Titel: DAS 5. OPFER Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer McMahon
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gemacht, über die richtige Spannweite von Dachsparren und darüber, wie man einen Fenstersturz baute. Sie hatte vorher noch nie darüber nachgedacht, wie Gebäude funktionierten, doch sie stellte fest, dass sie Feuer gefangen hatte – das hier war etwas, was ihre Liebe zum Zeichnen auf eine ganz neue Ebene brachte. Sie fühlte sich instinktiv zur Ordentlichkeit von Plänen und Entwürfen hingezogen; dem Gedanken, dass man ein Design zu Papier bringen konnte und es dann mit Holz und Nägeln zu dreidimensionalem Leben erwecken konnte. Es fühlte sich beinahe magisch an.
    Bisher hatten sie die Wände des Baumhauses eingefasst und mit Sperrholz ummantelt. Das einfache Pultdach war eingefasst, und es war zur Hälfte mit Sperrholz bedeckt, die andere Hälfte war mit einer blauen Plane behängt. Sie hatten außerdem ein paar Schlafsäcke hochgebracht, ein Kartenspiel und eine alte Obstkiste, die sie als Tisch benutzten. Da lag ein Stapel Brettspiele in einer Ecke – Monopoly, Cluedo, Das Spiel des Lebens und ein altes Ouija-Brett, das Vera gehört hatte. Leere Coladosen lagen überall verstreut, dazu kamen ein Hammer, eine Säge und Schachteln mit Nägeln.
    Charlie hatte seine alte, kaputte Akustikgitarre hier oben verstaut. Wenn Sie abends hier waren, benutzten sie Votivkerzen, die sie in Glasgefäße gestellt hatten, und Charlie spielte leise Melodien mit Bluesklang, in denen Reggie sich verlor. Die Töne trugen sie zu einem weit entfernten Ort in einer imaginären Zukunft, in der Charlie berühmt war, auf der Bühne stand und zu einem überfüllten Konzertsaal sagte: »Dieser Song ist für Reggie.«
    Reggie blickte jetzt auf die Gitarre und wandte ihre Augen bewusst von Charlie ab. Sie fummelte an ihrem neuen Ohr herum.
    Tara sagte: »Lass mich mal sehen«, und langte nach Reggies Ohr, wobei sie ihre Zigarette in ihrem Mundwinkel behielt. »Lässt es sich abmachen?«, fragte Tara und zog sanft daran. Als Reggie nickte, zog Tara fester, bis sie das Ohr in ihrer Hand hatte.
    »Cool!«, rief sie aus und blinzelte durch eine Wolke aus Rauch. »Genau wie bei Mr Potato Head!«
    EIN PAAR MONATE NACH dem Hundeangriff (von dem man in Reggies Familie danach nur noch als dem unglücklichen Vorfall sprach) hatte ihre Tante Lorraine sie zu einem Arzt in New Haven gebracht, der, nachdem er Reggies verbliebenes Ohr betrachtet hatte, eine passende Ohrprothese für sie modelliert hatte. Nur dass sie nicht passte. Nicht ganz. Die Farbe war ein wenig anders und der Kleber, der es an Ort und Stelle hielt, juckte schrecklich, daher blieb das Ohr in Reggies oberster Schublade, versteckt unter ihrer Unterwäsche. Ihre Mutter und ihre Tante gaben nach einer Weile auf und zwangen sie nur noch zu speziellen Anlässen, es zu tragen.
    »Dein Ohr!«, riefen sie dann, wenn sie auf dem Weg zur Tür waren, spät dran zum Weihnachtsgottesdienst oder dem Fototag in der Schule. Und Reggie rannte dann nach oben, wühlte in der Schublade herum und klebte das Ohr an, nur um es verstohlen im Auto wieder abzunehmen und den Gummiklumpen in die Tasche ihres guten Mantels zu packen, wo sie von Zeit zu Zeit danach tastete, es berührte, wie ein anderes Kind über einen Hasenfuß streichen würde.
    Ihre Mutter hatte durch den Angriff des Hundes ebenfalls eine Behinderung erlitten, den sie seitdem nur noch Zerberus nannte. Die Zähne des Hundes waren sauber durch den fleischigen Teil zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand ihrer Mutter gegangen und hatten eine Sehne mit Nerv beschädigt, die die Ärzte nicht komplett reparieren konnten. Das Ergebnis davon war, zusätzlich zu der dicken, halbrunden Narbe, die ihre einst perfekte Hand ruinierte, dass Vera niemals wieder in der Lage sein würde, ihren Zeigefinger zu beugen. Sie ging danach durchs Leben, verlegen ihre beschädigte Hand versteckend, hielt sie in ihrem Schoß oder unten an ihrer Seite, alle Finger eingerollt, bis auf einen, der fortwährend auf etwas zeigte. Wenn sie draußen, in der Öffentlichkeit, war, gewöhnte sie sich an, lange, weiße Handschuhe zu tragen – das Leder geschmeidig und weich wie Butter, Zeigefinger und Mittelfinger ihrer linken Hand waren gelb verfärbt von den Zigaretten, die sie in Kette rauchte.
    In Reggies Vorstellung wurde der Hund wirklich zu dem dreiköpfigen Ungeheuer mit dem Schlangenschwanz, das, wie ihre Mutter ihr erklärte, der Wächter der Unterwelt war.
    Wenn Reggie in den kommenden Monaten und Jahren an den Angriff dachte, stellte sie sich ihre Mutter in

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