DAS 5. OPFER
anständige Schlösser an den Türen hier anbringen lassen müssen.«
»Wie wäre es mit einer anderen Pflegerin für deine Mutter?«, sagte Lorraine.
»Nein«, sagte Reggie. »Wir werden uns, so lange wir können, selbst um sie kümmern. Ich denke nicht, dass es sicher ist, eine Fremde herzuholen.«
Lorraine nickte und starrte dann auf den Tee, den Reggie ihr hingestellt hatte. Sie umklammerte weiter ihre eigenen Hände, die trocken und aufgesprungen waren. »Arme Tara«, sagte sie.
Reggie nahm einen Schluck Espresso. »Es ist Tag eins«, sagte sie.
»Was?«, sagte Lorraine, hob ihre Tasse hoch und nahm einen vorsichtigen Schluck.
»Wenn es wirklich Neptun ist und er bei seinem üblichen Zeitplan bleibt, muss ich sie vor Tag fünf finden.« Wenn Tara mutig und verwegen sein konnte, dann konnte Reggie das auch. Sie dachte an Levi, das linkische Detective-Jüngelchen, und wusste, dass die Polizei Tara nicht retten konnte. Es hing von Reggie ab. Und dieses Mal war sie keine verängstigte Dreizehnjährige. Sie war kein Detective, aber sie war gut im Lösen von Problemen, darin, eine Reihe von unwahrscheinlichen Dingen zusammensetzen und dafür zu sorgen, dass sie einen Sinn ergaben. Wenn sie ein preisgekröntes Haus entwerfen konnte, konnte sie dann nicht dieselben Fähigkeiten dazu benutzen, einen Weg zu finden, um diesen Hurensohn fassen zu lassen, bevor er Tara tötete?
Lorraine verschluckte sich an ihrem Tee. »Und wie willst du das machen?«, fragte sie, sobald sie mit dem Husten fertig war.
»Wie auch immer ich kann«, sagte Reggie und fasste gedankenverloren nach der Sanduhr, drehte sie um.
Oben klingelte eine Glocke.
»Das ist deine Mutter«, sagte Lorraine und stand auf. »Tara hat ihr eine Glocke besorgt, damit sie uns rufen kann, wann immer sie etwas braucht.«
»Ich gehe«, sagte Reggie, trank den Rest ihres Kaffees aus der Tasse und ging zur Treppe.
»DU BIST ES«, SAGTE VERA und blickte zu Reggie auf.
»Ja«, sagte Reggie und blinzelte ihre Mutter in dem schwachen Licht an. Ein Radio spielte einen alten Bob-Seger-Song. Das Zimmer roch nach Medizin und Talkumpuder.
»Aber sie haben gesagt, du wärst weggegangen.«
Reggie lächelte auf sie hinab. »Ich bin zurückgekommen.«
»Wo ist mein Engel? Die, die singt?«
»Tara ist nicht hier, Mom.«
»Wo ist sie?«
»Ich denke, er hat sie«, sagte Reggie.
»Er?«
»Der Mann, der dich entführt hat. Der Mann, der deine Hand abgeschnitten hat. Neptun.«
Vera schloss fest ihre Augen, die Muskeln in ihrem Gesicht zogen sich zusammen, betonten die Knochen, ließen sie wie einen mit Haut bedeckten Totenschädel aussehen.
»Weißt du, wer er ist, Mom? Weißt du, wo er Tara hingebracht hat?«
Als Vera ihre Augen öffnete, lächelte sie, und Reggie fühlte Hoffnung aufschimmern. »Weißt du, wie das Wetter in Argentinien ist?«, fragte sie.
Reggie seufzte. »Nein, Mom. Das weiß ich nicht.«
»Die Jahreszeiten sind vertauscht. Wenn wir Herbst haben, haben sie Frühling. Du musst dich nur umsehen und wissen, dass dort unten das Gegenteil der Fall ist.«
Reggie nickte. »Kann ich dir etwas bringen, Mom?«
»Ein bisschen Eiskrem wäre nett«, sagte Vera.
»Kommt sofort.«
Reggie ging hinunter in die Küche, portionierte eine Kugel Schokoladeneiskrem in eine kleine Schüssel und brachte sie nach oben. Ihre Mutter schlief fest. Reggie stellte das Eis auf ihrem Nachttisch ab, neben das Klemmbrett, auf dem eine Tabelle war, die ihnen half, den Überblick über die Medikamentengaben zu behalten. Ihre Mutter bekam alle zwölf Stunden lang wirkendes Morphium, Morphium alle vier, Rivotril (Clonazepam) gegen die Angst alle sechs. Und wenn sie besonders aufgewühlt war, bekam sie Lorazepam. Laut der Tabelle hatte sie seit Sonntagnacht die maximale Dosis von allem bekommen. Kein Wunder, dass sie Unsinn redete.
Reggie verließ das Zimmer ihrer Mutter und ging über den Flur in den Raum, in dem Tara geschlafen hatte. Das Bett war gemacht. Taras leerer Rucksack stand auf einem Stuhl, und Reggie ging die Taschen durch, fand aber nichts. Reggie öffnete Kommodenschubladen, fand Unterwäsche, Socken, T-Shirts, Jeans und Pullover. Es fühlte sich aufdringlich an, so die Kleidung einer anderen Frau zu betatschen, aber sie war verzweifelt bemüht, irgendeine Art von Hinweis zu finden. Die ordentlichen Kleidungsstapel, die Tara aufgeschichtet hatte, waren alle durcheinander gebracht worden – Detective Levi hatte sie bereits durchsucht und nichts gefunden. Es
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