DAS 5. OPFER
erschien albern, trotzdem zu suchen. Doch sie sagte sich, dass es da vielleicht etwas gab, was er übersehen hatte; etwas, was nur eine verwandte Seele, eine Blutsschwester zu finden in der Lage war.
Auf dem Nachttischschrank befanden sich nur eine Taschenlampe, ein violetter Stift und ein halbvolles Glas Wasser.
Was hast du erwartet, fragte sie sich selbst. Eine Schatzkarte, die direkt zu Neptun führt?
Wenn es doch nur so wäre.
Ihr Herz wurde schwer. Sie war bereits dabei, Tara im Stich zu lassen. Sie blickte auf ihre Uhr, sah, wie die Sekunden vergingen, während Tara irgendwo gefesselt in einem Verlies saß und ihr rechter Arm in einem verbundenen Stumpf endete.
Reggie fühlte sich, als hätte man sie mitten hinein in eines von Taras alten Spielen geworfen. Ich bin von einem Serienmörder gefangen genommen worden. Du hast vier Tage Zeit, um den Hinweisen zu folgen und mich zu finden. Es fühlte sich an, als hätten sich eine Prüfung und ein grausamer Scherz und ein Albtraum ineinander verheddert.
»Ich werde dich finden«, sagte Reggie zu dem leeren Bett. Sie hob das halbvolle Glas Wasser hoch und nahm einen Schluck, stellte sich Taras Lippen auf demselben Glas vor, in der vorletzten Nacht.
Reggie ging zu den Bücherregalen hinüber, zögerte einen Moment, bevor sie schließlich nachgab und Krieg und Frieden herauszog. Dahinter fand sie Taras versteckte, mit Eselsohren versehene Ausgabe von Neptuns Hände.
»Ha!«, sagte sie laut. Offenbar hatte das Detective-Jüngelchen es versäumt, die Regale zu durchsuchen.
Sie bewegte ihre Finger über den erhabenen, silbernen Dreizack auf dem Cover, fühlte die grellen Blutstropfen, die von ihm heruntertropften.
Reggie steckte das Buch unter ihr Shirt, für den Fall, dass sie Lorraine im Flur traf, und ging zurück zu ihrem eigenen Zimmer, sah bei Vera vorbei, die immer noch schlief.
Zurück in ihrem alten Zimmer, machte sie die Tür zu, schloss ab und legte Neptuns Hände auf das Bett, das ordentlich mit der Weg-des-Trinkers-Steppdecke bedeckt worden war. Sie griff nach ihrer Umhängetasche und zog ihr Skizzenbuch und Stifte heraus. Dann, mit sicheren Schritten und gestrafften Schultern, ging Reggie direkt zum Schrank, riss die Tür auf, langte nach der alten Zigarrenkiste im oberen Fach und trug diese ebenfalls zum Bett hinüber.
Sie öffnete den Deckel mit zitternden Fingern und dem schrecklichen Gefühl, dass sie gerade den Geist aus der Flasche gelassen hatte.
24 20. Juni 1985 – Brighton Falls, Connecticut
DU MUSST ETWAS SAGEN«, sagte Tara.
Reggie, Charlie und Tara waren in Reggies Wohnzimmer, hörten Lorraine in der Küche zu. Sie putzte den Fisch für das Abendessen, summte, während sie arbeitete. Sie konnten Wasser laufen hören, das Geräusch eines Messers auf einem Schneidebrett und klebrige Kratzgeräusche. Reggie stellte sich vor, wie Lorraine flink den Bauch aufschnitt, Stränge von Eingeweiden herauszog, ihre Finger bedeckt mit glänzenden Schuppen.
Lorraine war den ganzen Tag weg gewesen, und Reggie hatte angefangen, sich Sorgen zu machen. Dann, vor einer halben Stunde, hatten sie, Charlie und Tara Lorraine dabei entdeckt, wie sie in ihren gigantischen Watstiefeln und der Fischerweste aus dem Wald trat und ihre Angel zum Fliegenfischen und eine Reihe von Forellen trug. Aus der Entfernung sah sie wie ein merkwürdiges Monster aus – halb Frosch, halb Frau, das das Flussufer hinaufplatschte.
Jetzt putzte sie in der Küche Fische, ohne sich der Neuigkeit bewusst zu sein, dass eine neue Hand – eine Hand voller Narben – gefunden worden war.
Tara ging auf und ab, unfähig stillzuhalten. »Vera ist ihre Schwester! Sie sollte es wissen.«
»Ich habe es bereits versucht«, sagte Reggie und setzte sich hin, weil ihr übel war. »Gestern Abend habe ich ihr erzählt, dass Mom in ein braunes Auto gestiegen ist. Sie sagte, sie wolle kein weiteres Wort darüber hören.«
»Die vernarbte Hand, Reg«, sagte Tara, blieb stehen, um mit ihrer eigenen, intakten Hand mit dem abgeplatzten blauen Nagellack in Reggies Richtung zu gestikulieren. »Das braune Auto. Hast du das Gesicht von Charlies Dad gesehen, als du ihm diesen Teil erzählt hast? Und diese Sache, die deine Mom gesagt hat, dass sie heiraten wollte – was ist, wenn das die Art ist, wie Neptun die Frauen weglockt? Du musst all das Lorraine erzählen. Sag ihr, du bist zur Polizei gegangen, und dass sie es überprüfen.«
»Ich kann ihr nicht sagen, dass ich das getan habe!«, rief Reggie.
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