Das 9. Urteil
ich gedacht hatte. Dann ließ sich der Killer erneut vernehmen.
»Hübscher Vorbau, Judy. Hoffen wir mal, dass du ein kluges Blondchen bist. Schließ das Headset an das Handy an und steck dir die Stöpsel in die Ohren. Kannst du mich hören?«
»Ja.«
»Okay, Süße, jetzt fährst du mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss. An der Ecke Mission und Fifth bekommst du weitere Instruktionen.«
»Ich kann’s kaum erwarten«, murmelte ich leise.
»Ich kann dich sehr gut hören«, sagte der Killer mit einem aggressiven Unterton. »Ich warne dich noch einmal, Judy. Die Stadt kann froh sein über diese kleine Atempause. Also sieh zu, dass du es nicht vermasselst.«
60
Das Telefon um meinen Hals fühlte sich an wie eine Bombe. Der Lippenstift-Killer konnte alles sehen, was ich sah, konnte hören, was ich hörte und sagte, und sollte dieser widerliche, unberechenbare Psychopath irgendwie unzufrieden werden, dann würde er noch mehr unschuldige Menschen ermorden.
Er hatte uns gewarnt.
Ich verließ das Redaktionsgebäude des Chronicle und trat in einen düsteren, grauen Nachmittag hinaus. Ich nahm die Einkaufsbummler und die Gelblichtfahrer um mich herum wahr und fragte mich, ob der Lippenstift-Killer auch die Zivilfahrzeuge auf der Fifth und der Mission registrierte. Ich sah Jacobi und Brady, Lenke und Samuels und Chi.
Mittlerweile hatte Conklin die Nachricht verbreitet, dass ich die Vermittlerin war und verdeckt arbeitete. Um zu verhindern, dass mir möglicherweise jemand etwas zurief, schaute ich Jacobi direkt an und deutete vorsichtig, sodass die Linse es auf keinen Fall mitbekam, mit zwei Fingern erst auf meine Augen und dann auf das Handy, um ihm zu signalisieren, dass ich beobachtet wurde.
In diesem Augenblick sah ich Cindy. Mit weit aufgerissenen Augen stand sie da und starrte mich an, als sei ich auf dem Weg zur Guillotine. Eine tiefe Zuneigung zu ihr durchströmte mich. Ich hätte sie am liebsten umarmt, doch stattdessen zwinkerte ich ihr zu, beide Daumen fest gedrückt.
Sie setzte ein gequältes Lächeln auf.
Ich wandte mich wieder der Straße zu und nahm Tylers robusten Aluminiumkoffer in die rechte Hand. Natürlich hatte ich Angst. Sobald ich »Sir« den Aktenkoffer gegeben hatte, brauchte er keine Zeugin mehr. Vermutlich würde er mich erschießen. Wenn ich ihn nicht zuerst erschoss.
Ich sagte: »Jetzt bin ich an der Ecke Fifth und Mission. Was soll ich machen?«
»Wirf deine Handtasche in den Mülleimer. Und zeig’s mir.«
»Meine Handtasche?«
»Mach schon, Prinzessin.«
Da ich Tylers Sekretärin spielte, hatte ich meine Pistole und mein Handy in die Handtasche gesteckt. Ich ließ sie also in den Mülleimer fallen und drehte die Kamera so, dass der Killer sie sehen konnte. Dieser Schweinehund.
»Braves Mädchen«, sagte der Lippenstift-Killer. »Und jetzt gehen wir zur BART -Station in der Powell Street.«
Die BART -Station lag anderthalb Straßenblocks entfernt. Als ich die Market Street überquerte, entdeckte ich Conklin hinter mir, außerhalb des Kamerawinkels. Ich spürte eine riesengroße Erleichterung. Ich hatte zwar keine Waffe mehr, aber wenigstens war mein Partner in der Nähe.
Ich ging die Treppe hinunter und zu dem Bahnsteig, wo die Züge Richtung Flughafen abfuhren. Die BART -Züge sind elegante, lang gezogene Geschosse, die bei der Einfahrt in den Bahnhof ein lautes Warnsignal ausstoßen – so wie jetzt.
Bremsen quietschten. Türen glitten auf. Ich bestieg den Zug mit der Aufschrift SFO und sah, dass Conklin in den gleichen Waggon einstieg, nur am anderen Ende. Der Zug fuhr los, und die Stimme des Killers ließ sich, wenn auch ein wenig undeutlich, vernehmen. »Zeig mir den Waggon«, sagte er.
Ich drehte mich langsam um, damit Conklin genügend Zeit hatte, sich abzuwenden. Der Zug wurde langsamer, und aus dem Lautsprecher drang eine blecherne Stimme, die die nächste Haltestelle ansagte: Civic Center.
Der Killer sagte: »Steig aus, Judy.«
»Sie haben doch gesagt, Flughafen.«
»Steig aus, sofort.«
Conklin saß eingequetscht in einer Ecke, zwischen uns standen Dutzende von Menschen. Ich wusste, dass er mich erst sehen würde, wenn ich ausgestiegen war und die Türen sich geschlossen hatten. Als der Zug aus dem Bahnhof rollte, konnte ich seinen besorgten Gesichtsausdruck erkennen.
»Zieh deine Jacke aus und wirf sie in den Müll«, sagte der Killer.
»Aber mein Hausschlüssel ist noch in der Tasche.«
»Schmeiß deine Jacke in den Müll. Kein Aber, Zuckerschnute. Mach
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