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Das 9. Urteil

Das 9. Urteil

Titel: Das 9. Urteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Patterson
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gelangte in den Tenderloin District, lenkte den Impala durch die übelste Gegend von ganz San Francisco. Die düsteren Straßen wurden von verkommenen Spelunken, Stripschuppen und Stundenhotels gesäumt. In einer Gasse ganz in der Nähe waren Jacobi und ich einmal angeschossen worden und dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen.
    Ich kam an Straßen vorbei, durch die ich als Streifenpolizistin patrouilliert war, an einer erstklassigen Pizzeria, in die ich Joe vor einer Weile geführt hatte, und an einer Bar, in der Conklin und ich uns manchmal nach einer Doppelschicht zusammensetzten, um die Anspannung loszuwerden. Ich bog in die Geary Street ein und fuhr an Mel’s Drive-in vorbei, wo ich mich früher öfter mit Claire getroffen hatte, als Berufsanfängerinnen, die sich ihren Frust über das Dasein als Frau in einer Männerwelt von der Seele lachen mussten.
    Meine Augen wurden feucht, nicht, weil der Killer mir ständig neue Dressurübungen abverlangte, sondern wegen der nostalgischen Gefühle, der schmerzhaften Erinnerungen an die guten, alten Zeiten mit meinen guten, so vertrauten Freundinnen, und weil ich mich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass dies das letzte Mal war, dass ich mich in süßen Reminiszenzen an meine Vergangenheit ergehen konnte.
    Die geisterhafte Stimme eines Mannes, der drei junge Mütter und ihre Kleinkinder ermordet hatte, meldete sich wieder.
    »Häng das Handy an den Rückspiegel, sodass die Kamera auf dich zeigt.«
    Ich stand an der Kreuzung Van Ness Avenue und Geary Street vor einer Ampel. Kaum hatte ich das Telefon an den Spiegel gehängt und den Blick auf das erbsengroße Objektiv gerichtet, sagte der Lippenstift-Killer: »Zieh deine Bluse aus, Zuckerschnute.«
    »Was soll das denn jetzt?«
    »Wie gesagt: keine Fragen.«
    Ich verstand. Er wollte wissen, ob ich ein verstecktes Mikrofon bei mir hatte. Zuerst die Handtasche, dann die Jacke, die Schuhe und der Koffer. Und jetzt das.
    Ich zog die Bluse aus.
    »Schmeiß sie zum Fenster raus.«
    Ich fügte mich. Die Fußgänger hoben nicht einmal den Kopf.
    »Und jetzt das Gleiche mit dem Rock.«
    »Die Ampel steht auf Grün.«
    »Fahr an den Straßenrand. Sehr schön … braves Mädchen«, sagte der Killer. »Also, zieh den Rock aus und schmeiß ihn weg. Und jetzt den BH .«
    Mir war speiübel, aber ich hatte keine Wahl. Ich löste den Verschluss meines BHs und warf ihn, wie verlangt, zum Fenster hinaus. Der Killer stieß einen anerkennenden Pfiff aus, dieser kranke Irre, und die Erniedrigung drang in die tiefsten Tiefen meiner Seele vor.
    Eine Erniedrigung, die nicht zuletzt darin bestand, dass dieser blutlüsterne Kindermörder und Frauenhasser mich isoliert und das gesamte San Francisco Police Department ausgetrickst hatte.
    Niemand wusste, wo ich war.
    »Braves Mädchen, Lindsay. Sehr, sehr gut. Und jetzt hängst du dir das Telefon wieder um den Hals und fährst weiter. Das Beste haben wir ja noch vor uns.«

64
    Ich trieb den Impala durch gewundene Sträßchen, bergauf und bergab, und dann auf die Lombard Street, die kurvenreichste aller Straßen, ein Touristenmagnet, der sich nach oben schwang, bei der Hyde Street ihren Scheitelpunkt erreichte und mir eine unbezahlbare Aussicht bescherte. Nur wegen dieses Blicks müsste San Francisco eigentlich zu den Sieben Weltwundern gerechnet werden.
    Ich habe dieses Panorama schon so oft gesehen, immer und immer wieder, aber heute war das erste Mal, dass ich der Faszination des Blicks über die San Francisco Bay, Alcatraz und Angel Island nicht erlag. Stattdessen stürzte ich mich schon einen Augenblick später die steilen und verwinkelten Abhänge der Lombard Street hinab.
    Ich bekam immer neue Anweisungen ins Ohr, hörte, wie cool es sei, dass ich am Steuer saß und er die Aussicht genießen und an sein Geld denken konnte. An jeder Kreuzung blieb ich stehen, zog den Kopf ein und hoffte, dass niemand Notiz von einer barbusigen Frau nahm, die gerade eine der schönsten Straßen der Vereinigten Staaten entlangfuhr.
    Ich blickte unaufhörlich in die Spiegel, schaute an jeder Kreuzung nach links und rechts, suchte nach Jacobi, Conklin, Chi, nach irgendjemandem.
    Ich gebe es zu. Für einen irrationalen Augenblick lang zuckte die Wut in mir auf. Das eigene Leben für etwas aufs Spiel zu setzen, woran man glaubt, das ist eine Sache. Aber von einem Killer als Roboter benutzt zu werden, als Opfer bei einer Aktion, die man selbst für falsch, ja, für Wahnsinn hält … das ist etwas ganz

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