Das Abkommen
allein. Irgendwie gab es nie so viele gute Jahre am Stück, dass sie mit dem Rauchen aufhören konnte. Ich sehe sie immer noch an unserem Küchentisch sitzen, wie sie mit der Zigarette in der Hand ins Leere starrt. Ich glaube, das war das Einzige in ihrem Leben, das einfach war – das ihr Freude machte, ohne dafür etwas von ihr haben zu wollen. Aber am Ende hat sie dann doch etwas dafür hergeben müssen. Nach allem, was sie in ihrem Leben durchmachen musste, hat sie auch noch Krebs bekommen.«
Anne kuschelte sich an die zerschlissene Lehne des Sofas. »Ich habe mir lange vorgemacht, dass sie gegen den Krebs gekämpft hat, aber inzwischen glaube ich, dass ich diejenige war, die gekämpft hat. Ich habe die Schule geschwänzt, um sie zum Arzt zu bringen, stundenlang nach alternativen Behandlungsmethoden gesucht, mich um die Medikamente gekümmert, mit Versicherungen gestritten … Und sie saß einfach nur im Wohnzimmer vor dem Fernseher, hat heimlich Zigaretten geraucht und auf den Tod gewartet. Vielleicht hat sie sich sogar auf ihn gefreut. Ich weiß es nicht.«
Das Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos fiel durch das Fenster und ließ eine Träne auf Annes Gesicht glitzern, die noch nicht genug Masse hatte, um ihr über die Wange zu rollen.
Ich wollte etwas sagen, doch was? Sollte ich jetzt wieder mit meiner ausgefeilten Rede über Freiheit und Selbstbestimmung anfangen? Über Verantwortung und Schuld des Einzelnen referieren? Meine zahlreichen Kritiker hatten recht: Diese geschliffen formulierten und gnadenlos logischen Argumente waren gut und schön, wenn man über dreihunderttausend Leute redete, verloren aber jede Relevanz, wenn es um einen Menschen ging.
Also saß ich einfach nur da und hörte zu, wie Anne redete. Über die chaotischen Beziehungen ihrer Mutter, über verloren gegangene Jobs und verloren gegangene Hoffnung, über ständige Umzüge und den Kampf, sich einer neuen Umgebung anzupassen, über Trailerparks und Polizei. Und darüber, wie man starb.
Und irgendwann wurde mir klar, dass Anne sich nicht die Schuld am Tod ihrer Mutter gab, oder daran, dass sie mit dem Rauchen angefangen hatte. Sie machte sich Vorwürfe, weil sie ihre Mutter nicht bedingungslos geliebt hatte. Sie machte sich Vorwürfe, weil sie ihre Mutter verachtet hatte, weil sie wütend auf sie gewesen war, weil sie ständig mit ihr gestritten hatte.
Als sie fertig war mit Reden, legte ich eine Hand auf ihre Wange und zwang sie, mich anzusehen. »Und was machen wir jetzt, Anne? Vor einer Weile haben Sie gesagt, es sei an der Zeit, sich für eine Seite zu entscheiden. Auf welcher Seite stehen Sie ?«
Sie überlegte einen Moment. Dann setzte sie sich auf meinen Schoß und beugte sich zu mir. »Ich glaube, darüber sollten wir uns später unterhalten.«
An diesem Morgen spielte ich wieder mein Spiel.
Ich lag mit geschlossenen Augen da, völlig reglos und kaum atmend. Ich hatte keinen Kater, doch die Erinnerung an die letzte Nacht war trotzdem etwas verschwommen, fast so, als wäre es ein schöner Traum gewesen. War es tatsächlich passiert? Oder würde gleich Nikotin hereinkommen, auf das Bett springen und zum hundertsten Mal beweisen, dass ich allein war?
Ich weiß nicht, wie lange ich so unter der Decke liegen blieb, die sich zu schwer anfühlte, und mich von der Sonne wärmen ließ, die einen merkwürdigen Winkel hatte. Ich vermied es, irgendetwas zu tun, mit dem ich mir beweisen würde, dass ich in meinem Bett lag, während ein ausgebildeter Mörder in meiner Küche saß und eine Horde Reporter meinen Rasen zertrampelte.
Schließlich hatte ich genug Mut gesammelt, um den Arm auszustrecken und nach Widerstand zu suchen. Die zwei Sekunden fühlten sich wie eine Ewigkeit an, doch schließlich berührten meine Finger warme Haut, und Adrenalin schoss mir in die Blutbahn. Ich ließ sie über ein Bein, eine Hüfte, einen Rücken gleiten und vergrub sie dann in langem, seidigem Haar.
Ich hatte endlich gewonnen.
Anne bewegte sich kurz hin und her und versuchte, tiefer in der Matratze zu versinken. Ich machte die Augen auf. Als ich mich auf einem Ellbogen abstützte, rollte sie sich auf die Seite und blinzelte mich mit halb geschlossenen Augen an.
Es war ein Moment, der für mich voller Verzückung hätte sein sollen, doch plötzlich überfiel mich panische Angst. Was würde ich sehen, wenn sie völlig wach war? Reue? Entsetzen? Abscheu? Würde sie denken, dass ich ihre niedergeschlagene Stimmung ausgenutzt hatte? Hatte
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