Das achte Opfer
seinem Mandanten im Vernehmungszimmer, bevor dieser abwechselnd von Durant und Hellmer befragt wurde. Gegen neunzehn Uhr erklärte er, daß er kein Wort mehr zu dem Fall sagen wolle.
»Hat Frau Tietgen Sie in irgendeiner Weise unter Druck gesetzt?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
»Hat sie Drogen von Ihnen bekommen oder gefordert?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
»Wie Sie wollen, es ist Ihre Zeit. Nur noch eine Frage – haben Sie Verona Tietgen heute in den frühen Morgenstunden getötet?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
»Gut, dann werden wir Sie jetzt in Ihre Zelle zurückbringen lassen. Aber über eines sollten Sie sich im klaren sein – Siestehen nicht nur mit einem, sondern mindestens mit anderthalb Beinen im Zuchthaus. Die Indizien sprechen eindeutig gegen Sie. Wir sehen uns dann morgen. Gute Nacht.«
Ein uniformierter Beamter legte ihm Handschellen an und führte ihn aus dem Zimmer. An der Tür drehte Schenk sich noch einmal um. »Und wenn ich es war, was passiert dann mit mir?«
»Weiß nicht, das hat letztendlich der Richter zu entscheiden. Sie kennen das ja, von Notwehr über Totschlag bis hin zu vorsätzlichem Mord ist alles möglich.«
»Ja, klar, ich denke, es war Notwehr. Sie hat mich ausgesaugt.«
»Was meinen Sie damit?«
»Gute Nacht.«
Die Kommissarin vermutete, daß Verona Tietgen sterben mußte, weil sie vielleicht immer mehr Geld für Drogen von Schenk forderte, vielleicht hatte sie ihn unter Druck gesetzt. Womit, darüber konnte man im Augenblick nur spekulieren. Es interessierte Durant jetzt auch nicht weiter. Sie wußte, daß Schenk der Täter war, und es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis er ein umfassendes Geständnis ablegte.
Gegen zwanzig Uhr fuhr Julia Durant nach Hause, sah die wenige Post durch, ließ sich Badewasser einlaufen, machte sich eine Scheibe Brot mit Salami und trank eine Flasche Bier. Sie stellte den Fernsehapparat an, setzte sich nach dem Baden in Unterwäsche auf ihren Sessel, nahm den anonymen Brief aus ihrer Handtasche und las ihn zum dritten Mal. Sie holte die Bibel aus dem Bücherregal, schlug die Johannesoffenbarung auf, blätterte schnell ein paar Seiten, bis sie auf die in dem Brief geschriebenen Zeilen stieß. Sie wußte nicht, warum dieser Brief abgeschickt worden war,vor allem aber wußte sie nicht, warum er ausgerechnet an sie adressiert war. Vielleicht war es ein Zufall, aber sie hatte aufgehört, an Zufälle zu glauben. Vielleicht war dieser Brief nur der Anfang eines Spiels, doch was für ein Spiel das sein sollte, konnte sie nicht einmal erahnen.
Um zehn schaltete sie den Fernsehapparat wieder aus und ging zu Bett. Sie hatte diesmal die Vorhänge zugezogen, das Fenster gekippt. Sie schlief schnell ein.
Montag, 22.00 Uhr
Er ging langsam von der Garage zum Haus, das hell erleuchtet war. Er schloß die Tür auf, betrat den langen, geräumigen Flur, stellte seinen Koffer auf den Boden, zog die Jacke aus und hängte sie an die Garderobe. Er lockerte seine Krawatte, öffnete den obersten Knopf seines Hemdes, nahm den Koffer und ging ins Wohnzimmer. Anna, das Hausmädchen, kam ihm aus der Küche entgegen, eine treue Seele, auf die er sich jederzeit verlassen konnte. Seit seine Frau aus der Psychiatrie entlassen worden war und die Tage meist damit zubrachte, im Sessel zu sitzen und ins Leere zu starren, mußte Anna noch eine zusätzliche Aufgabe übernehmen, nämlich darauf zu achten, daß seine Frau nichts Unbedachtes tat, nicht noch einmal versuchte, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Fast fünf Jahre war es jetzt her, seit sie fünfzig Tabletten Rohypnol zusammen mit einer halben Flasche Cognac eingenommen hatte, und es war Anna zu verdanken, daß sie noch rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht werden konnte, wo man ihr den Magen auspumpte und sie danach noch zwei Wochen in einem komaähnlichen Zustand verbrachte, aus dem sie erst allmählich erwachte.
Aber sie war nicht mehr die Frau der vergangenen Jahre, lebenslustig und voller Elan, ihre Augen strahlten nicht mehr im alten Glanz, in ihrem Gesicht zeigte sich kaum noch eine Regung. Auch wenn ihr Körper noch lebte, bisweilen in einer Art katatonischer Starre, so hatte sie doch innerlich aufgehört zu leben. Ihre Seele hatte mit dieser Welt abgeschlossen, mit dieser für sie so grausamen, ungerechten und unmenschlichen Welt. Dabei war sie gerade einmal sechsundvierzig Jahre alt, mittelgroß und schlank, sie hatte dunkelblondes Haar, das in sanften Schwüngen bis
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