Das achte Opfer
solche Last aufgebürdet worden, daß das Leben für ihn keinen Sinn mehr macht? Seine Opfer haben alle direkt oder indirekt mit seinem Leid zu tun. Und er hat auch keine Angst vor dem Tod, wahrscheinlich ist der Tod für ihn sogar eine Erleichterung, vielleicht wartet er nur auf ihn. Doch bevor er stirbt, will er die bestrafen, die letztendlich auch an seinem Tod schuld sind. Das Leben macht für ihn schon längst keinen Sinn mehr, sein ganzes Denken ist nur noch auf das eine Ziel ausgerichtet – seine Rache für etwas, von dem wir nicht wissen, was es ist. Wir wissen nur, daß er seinen Opfern die Zahl des Teufels auf die Stirn schreibt, und zwar mit deren eigenem Blut, ein Zeichen, daß er diese Menschen für abgrundtief schlecht und verwerflich hält. Seine Welt war heil und in Ordnung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, als diese heile Welt völlig aus den Fugen geriet. Vielleicht vergleichbar mit einer wunderschönen, blühenden Insel mitten im Ozean, die innerhalb weniger Minuten durch einen verheerenden Vulkanausbruch unbewohnbar wird. Ein solcher Vulkanausbruch hat, symbolisch gesehen, das Leben unseres Täters zu einer öden Wüste gemacht. Er hat keine Hoffnung mehr, keine Freude mehr am Leben, für ihn ist alles unwichtig geworden. Sollte er reich sein, was naheliegt, so bedeutet ihm dieser Reichtum nichts mehr, er würde vielleicht sogar alles verschenken, wenn er nur seine ehemals so schöne Welt wiederbekäme.«
»Und die zwölf Lilien – stehen sie nun für zwölf Morde oder nicht?« fragte Berger ungeduldig, da er ähnliche Ausführungen bereits von dem Polizeipsychologen Schneider gehört hatte.
»Schwer zu beantworten, doch ich glaube nicht. Ich bin eher der Überzeugung, daß nur ein Teil davon für die Morde steht. Doch erst die Zukunft wird zeigen, ob ich mit meinerVermutung richtig liege. Doch nun zu einem anderen Punkt. Sie haben bei dem ermordeten Stadtdekan Domberger ein Notizbuch gefunden, in dem für die Mordnacht das Kürzel Cic. eingetragen war. Sie haben mir gesagt, daß bei den anderen Ermordeten jeweils die gleichen Notebooks der Marke IBM gefunden wurden, auf denen verschlüsselte Botschaften gespeichert waren, unter anderem Decknamen wie Moses, Nero etc. Soweit ich weiß, ist nicht bekannt, wer hinter diesen Namen wirklich steckt, doch Cic. könnte unter Umständen darauf schließen lassen, daß es die Abkürzung für Cicero ist, der meines Wissens sowohl ein römischer Staatsmann als auch ein Gelehrter und Dichter war … Und ein Anwalt, der gegen die Ungerechtigkeit im römischen Staat kämpfte. Wenn nun dieses Kürzel tatsächlich Cicero bedeutet, welche Funktion hat unser Cicero dann inne? Ist er ein Staatsmann oder Staatsdiener, ein Gelehrter, sagen wir Doktor oder Professor an der Universität, in einem Krankenhaus oder gar ein Dichter, Schriftsteller, oder ist er ein Anwalt, Rechtsanwalt, Staatsanwalt? Wobei Rechtsanwalt eher unwahrscheinlich erscheint, da Cicero zu seiner Zeit hauptsächlich als Ankläger aufgetreten ist, bevor er in die Politik ging, wo er die meiste Zeit seines Lebens zubrachte. Allerdings gibt es noch einen anderen Cicero, der im Zweiten Weltkrieg unter diesem Decknamen einer der berühmtesten Spione war.«
»Woher wissen Sie das alles?« fragte Berger neugierig.
»Ich habe die Encyclopaedia Britannica auf CD-ROM. Es gibt auf der ganzen Welt kein umfangreicheres Nachschlagewerk«, erwiderte Hübner und schlug seinen Block zu. »Wenn unser Täter bis jetzt überhaupt einen Fehler begangen hat, dann den, das Blatt aus dem Terminkalender von Domberger nicht entfernt zu haben. Vielleicht kommen Sie damit ein wenig weiter. Denn mir fällt beim besten Willenkein anderer Name ein, dessen erste drei Buchstaben Cic. sind.«
»Was, wenn er das Blatt absichtlich nicht rausgerissen hat?« fragte Julia Durant. »Wahrscheinlich weiß er längst, daß wir bei allen Opfern die Notebooks und die darauf gespeicherten Decknamen gefunden haben. Vielleicht will er uns nur zeigen, daß er ein Teil der Organisation ist, und gleichzeitig demonstrieren …«
»Daß er doch nicht dazugehört«, murmelte Hellmer nachdenklich. »Das würde für sein überlegtes Vorgehen sprechen.«
»Das ist durchaus möglich«, sagte Hübner. »Aber das herauszufinden wird Ihre Aufgabe sein. Haben Sie noch Fragen?«
»Ja, eine«, sagte Julia Durant. »Wenn Cic. gleich Cicero ist, dann haben wir es definitiv mit einem Mann zu tun, oder?«
»Das ist anzunehmen.«
»Danke«, sagte Berger
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