Das achte Opfer
hinter sich zu. Hellmer warf ihr einen eindeutigen Blick zu, sie nickte nur, worauf Hellmers Gesichtszüge sich sichtlich entspannten. Sie setzte sich auf einen freien Stuhl, zündete sich eine Gauloise an und wartete, bis Berger zurückkam und Hübner mit seinen Ausführungen beginnen konnte.
»Tut mir leid«, sagte Berger nach fünf Minuten, »aber ich mußte noch ein dringendes Telefonat führen.« Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz, warf einen langen Blick in die Runde. »Fangen wir an. Ich bin gespannt, ob wir etwas über den Täter erfahren werden.«
Hübner, in dessen Gesicht sich keine Regung zeigte, klappte den Block auf, auf dem er sich eine Menge Notizen gemacht hatte.
»Ich habe den ganzen gestrigen Abend und auch einen Teil der Nacht damit zugebracht, mir ein Bild vom Täter zu machen, und ich denke, es ist mir zumindest ansatzweise gelungen. Ich weiß nicht, inwiefern Sie sich schon diese Frage gestellt haben, aber das Vergiften mit Zyankali und die Kastration lassen zumindest theoretisch auch eine Frau in Betracht kommen. Auf der anderen Seite steht die äußerst blutige Vorgehensweise, die eher Männern zu eigen ist. Aber der Reihe nach – wir haben Ankündigungen, die jedem Mord vorausgehen und an Kommissarin Durant geschickt werden, die der Täter offensichtlich sehr schätzt. Vor jedem Mord erhielten Sie, Frau Durant, ein Schreiben mit einem Bibelzitat, auch gestern …«
»Moment, was für ein Bibelzitat habe ich gestern erhalten?«
»Ich lese es Ihnen vor:
Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zu richten, nicht die Gerechten.
Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich das Zitat fand, es steht im Neuen Testament, Markusevangelium zwei, Vers siebzehn. Nur ist der Wortlaut dort ein klein wenig anders, dort heißt es nämlich nicht,
um die Sünder zu richten,
sondern,
um die Sünder zu rufen.
Der Täter ruft nicht, er richtet. Und wie es aussieht, wird es diesmal einen Arzt treffen. So, wie der Täter in seinen Ankündigungen zuvor schon jeweils indirekt auf den Beruf des Opfers aufmerksam gemacht hat, so hat er dies in diesem Fall sicher auch getan. Die einzige Ausnahme ist Winzlow, der nicht auf seinen Beruf, sondern auf seine päderastischen Neigungen angesprochen wurde. Nur, wie viele Ärzte gibt es in Frankfurt und Umgebung? Und wer weiß, vielleicht ist das potentielle Opfer bereits tot … Aber fahren wir fort; zwölf weiße Lilien, Grabblumen, Blumen der Trauer, des Todes, des Verlusts. Wenn wir jetzt einmaldavon ausgehen, daß die Blumen in erster Linie für Trauer und Verlust stehen, dann stellt sich die Frage, was für ein Verlust gemeint ist. Hat er vor, zwölf Leute umzubringen, um sein Werk zu vollenden, oder ist damit eventuell auch ein persönlicher Verlust und persönliche Trauer gemeint? Was ist dem Täter widerfahren, daß er zu solchen Handlungen fähig ist? Ausgeschlossen werden kann auf jeden Fall, wie ich bereits gestern ausführte, religiöser Fanatismus, auch wenn der Täter sich in der Heiligen Schrift ziemlich gut auskennt. Über die Persönlichkeit ist soviel zu sagen – er ist intelligent, allem Anschein nach sehr angesehen, eine Vertrauensperson, wohlhabend, nicht psychopathisch, auch kein religiöser Fanatiker. Die Bibelzitate dienen ihm nur als Mittel zum Zweck. Er kennt seine Opfer persönlich, wobei diese niemals auf die in ihren Augen absurde Idee kommen würden, daß ausgerechnet er sie im nächsten Moment umbringen würde. Wie Sie, Kommissarin Durant, gestern sagten, könnte es sich bei den Opfern um Mitglieder aus dem Bereich der organisierten Kriminalität handeln. Wobei offen ist, in welchen Bereichen sie tätig waren. Nach meinem Dafürhalten ist auch der Täter in diesen Kreisen zu finden, doch nicht aus Überzeugung, sondern um einen Plan zu erfüllen. Er will das Übel ausrotten und hat sich dafür unbemerkt in die Höhle des Löwen begeben, wo ihn jeder für einen der Seinigen hält.«
»Als Sie von den Lilien sprachen, was meinten Sie da konkret, als Sie sagten, der Täter habe unter Umständen einen persönlichen Verlust erlitten?«
»Ganz einfach – vielleicht ist die Organisation schuld daran, daß unser Täter leidet. Schwer leidet. So schwer, daß es ihm vorkommt, als trüge er alle Last dieser Welt auf seinen Schultern. So schwer, daß er meint, diese Last nur dann leichter werden zu lassen, wenn er die Schuldigen bestraft.Doch wem ist derartiges Unrecht widerfahren, wem ist eine
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