Das achte Opfer
liebte er seine Familie viel zu sehr. Aber er war nicht korrupt, er ist gezwungen worden, korrupt zu sein. In seinem Innern war er ein tadelloser Anwalt, und er war stolz darauf. Bis diese Schweiger kam!«
»Warum hat Ihr Mann sich nicht an den Generalstaatsanwalt gewandt? Oder an eine andere Person seines Vertrauens?«
Frau Anders lachte erneut bitter auf, schüttelte den Kopf, nahm einen Schluck Gin. »Wissen Sie, wenn Sie Ihrer direkten Vorgesetzten nicht vertrauen können, wem dann? Wer sagt denn, daß der Generalstaatsanwalt nicht auch in irgendwelche zwielichtigen Geschäfte verwickelt ist? Oder jemand von der Polizei? Für meinen Mann gab es ab diesem Moment keinen mehr, dem er vertraute. Anfangs fiel mir sein verändertes Verhalten nicht so sehr auf, doch mit der Zeit wurde ich aufmerksam. Er war des öfteren gereizt und schimpfte auch aus manchmal nichtigen Gründen mit den Kindern, was er vorher nie getan hatte. Dann wieder war er in sich gekehrt und nicht ansprechbar, es war, als hätte er eine Mauer um sich errichtet. Und wie gesagt, besonders schlimm wurde es in den letzten Wochen. Bis ich ihn zur Rede stellte, weil ich diesen Zustand nicht länger ertrug. Erschlief nicht mehr mit mir, er war ein völlig anderer Mensch geworden.« Sie schloß kurz die Augen, atmete tief ein und fuhr fort: »Ich weiß noch, es war genau heute vor einem Monat. Die Kinder lagen im Bett, wir saßen allein hier im Wohnzimmer. Ich fragte ihn ganz ruhig, was mit ihm los sei. Ich erwartete eigentlich keine Antwort, ich erwartete höchstens, daß er wortlos aufstand und das Zimmer verließ. Statt dessen sprudelte mit einem Mal alles aus ihm heraus. Er erzählte fast zwei Stunden von dem, was im vergangenen Jahr geschehen war, er erzählte von der Organisation und ihren perfiden Machenschaften. Ich erfuhr zum ersten Mal von den Schmiergeldern und den Drohungen gegen ihn und uns. Mein Gott, er hatte das alles so lange mit sich herumgeschleppt! Mit einem Mal verstand ich, weshalb er sich so verändert hatte. Er war einfach fertig, seine Nerven spielten nicht mehr mit. Er saß da, wo Sie jetzt sitzen«, sie deutete auf Julia Durant, »und er vergrub sein Gesicht in seinen Händen und weinte hemmungslos. Er hatte solch furchtbare Angst! Und ich fühlte mich so hilflos, das einzige, was ich tun konnte, war, ihn in den Arm zu nehmen und ihn zu trösten. Er war ein guter, rechtschaffener Mann, das kann ich mit gutem Gewissen sagen. Er hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen, nicht aus eigenem Antrieb. Aber diese Organisation ist so mächtig und so stark, dagegen kommt keiner an. Auch der Mörder nicht.«
»Sie meinen den Mörder von Matthäus und Schweiger und . . .«
»Genau den. Mein Mann sagte vor ein paar Tagen, daß er den Mörder bewundere und sich wünschte, nur ein wenig von dessen Courage zu besitzen, sich gegen die Organisation zu stellen. Aber mein Mann hätte niemals jemanden umbringen können. Er trat für Recht und Gerechtigkeit ein, doch er war immer gegen die Todesstrafe. Allerdings sagteer mir, daß der Mörder in seinen Augen rechtschaffen handele.«
Hellmer trank von seinem Wasser, stellte das Glas wieder auf den Tisch. Er zündete sich eine Zigarette an, inhalierte und blies den Rauch durch die Nase aus.
»Hat Ihr Mann jemals erwähnt, wer der Mörder sein könnte?«
Frau Anders schüttelte den Kopf. »Nein, er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wer diese Morde beging. Er kannte ja auch nicht die gesamte Organisation, dazu ist sie viel zu groß, aber er hat gewisse Einblicke bekommen. So zum Beispiel, daß in den Spitzenpositionen Decknamen verwendet werden.«
»Wußte er, wer sich hinter bestimmten Decknamen verbarg?« fragte Hellmer.
»Nein, das hat er nicht rausgefunden. Allerdings wurde er in den letzten zwei Jahren durch eine ihm unbekannte Quelle über gewisse Geschäfte und Transaktionen informiert. Immer nur schriftlich zwar, aber er hat alles in seinem Notebook-Computer vermerkt.«
»Befindet sich dieser Computer hier im Haus?« fragte Julia Durant.
»Nein, er müßte in seinem Schreibtisch im Büro sein.«
»War Ihr Mann mein Informant?« fragte die Kommissarin. Frau Anders blickte zu Boden, drehte das Glas zwischen den Händen. »Er hat versucht, zu retten, was zu retten war. Ich konnte nicht glauben, was er von Menschenhandel und anderen, noch viel scheußlicheren Dingen erzählte. Ja, und er hat ein paarmal von Ihnen gesprochen und gesagt, Sie seien in seinen Augen eine aufrichtige,
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