Das achte Opfer
nur ein paar Minuten ruhig zu sitzen und fernzusehen. Immer wieder ging er in sein Arbeitszimmer und telefonierte, mit wem auch immer. Bisweilen machte er auf mich den Eindruck eines gehetzten Tieres.«
»Haben Sie mit ihm darüber gesprochen? Ich meine, über Ihren Eindruck?«
»Ja, natürlich«, antwortete sie mit einem bitteren Lachen. »Ich habe mit ihm gesprochen, ihn gefragt, was los sei. Erst wollte er nicht raus mit der Sprache, doch schließlich hatte ich ihn soweit, daß er es mir erzählte. Er hatte Angst, weiß Gott, er hatte panische Angst.« Wieder fuhr sie sich mitdem Taschentuch über die Augen und die Nase. Stumme Tränen liefen über ihr ausdrucksvolles Gesicht, das ihr Alter nicht verriet, Hellmer schätzte sie auf Mitte Dreißig bis Mitte Vierzig.
»Wovor hatte er Angst? Vor der Organisation?«
Frau Anders blickte Hellmer ungläubig an, die Stirn in Falten gezogen, der Tränenfluß versiegte für einen Moment. »Was wissen Sie von der Organisation?«
»Einiges, aber leider nicht genug. Was wissen Sie?«
Sie holte tief Luft, erhob sich, ging an den Schrank, ließ eine Klappe aufschnappen und holte eine Flasche Gin heraus.
»Möchten Sie auch einen?« fragte sie. »Oder darf ich Ihnen etwas anderes anbieten – Wasser, Orangensaft?«
»Wasser, wenn es nicht zuviel Mühe macht«, sagte Hellmer.
Sie schenkte sich ein Glas voll mit Gin, stellte es auf den Tisch, danach holte sie eine Flasche Wasser und zwei Gläser aus der Küche.
»Danke«, sagte Hellmer und schenkte Julia Durant und sich ein. Frau Anders nahm einen Schluck Gin, behielt das Glas in der Hand.
»Das ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich am Vormittag Alkohol trinke.« Sie seufzte auf, fuhr fort: »Aber es gibt wohl für alles ein erstes Mal.«
»Natürlich. Doch würden Sie uns freundlicherweise verraten, was Ihnen Ihr Mann über die Organisation erzählt hat?«
»Er ist da irgendwie hineingeraten, und zwar durch diese Schweiger. Es gab vor etwa zwei Jahren einen Fall, den mein Mann bearbeitete und der von der Rechtslage her ganz eindeutig war. Es hätte nicht einmal viel Geschick gebraucht, um den Angeklagten für den Rest seines Lebens hinter Gitter zu schicken, doch die Schweiger wollte unbedingt,daß bestimmte Fakten während des Prozesses nicht erwähnt wurden . . .«
»Das heißt, sie hat Ihren Mann aufgefordert, Beweismaterial verschwinden zu lassen?« fragte Julia Durant.
»Genau so war es. Er hat sich natürlich geweigert und wollte gegen die Schweiger vorgehen, doch sie machte ihm unmißverständlich klar, würde er auch nur ein Wort von dem zwischen ihnen beiden geführten Gespräch nach außen dringen lassen, wäre er ein toter Mann.« Sie nahm einen weiteren Schluck, sah von Hellmer zu Julia Durant, ihre Augen waren rotumrändert.
»Und Ihr Mann, was hat er getan?«
»Das ist noch nicht alles. Sie hat ihm außerdem gedroht, einem unserer Kinder oder mir etwas anzutun.« Sie machte eine Pause und fragte: »Haben Sie zufällig eine Zigarette für mich? Ich habe vor fünf Jahren aufgehört zu rauchen, aber jetzt . . .«
Hellmer holte die Schachtel Marlboro aus seiner Hemdtasche und hielt sie ihr hin. Sie nahm eine, Hellmer gab ihr Feuer.
»Und was geschah weiter?« fragte Julia Durant.
»Er hat natürlich nichts gesagt, er hat die Beweise verschwinden lassen. Der Prozeß dauerte nur ein paar Tage, der Anwalt des Angeklagten hatte leichtes Spiel. Es gab, wie nicht anders zu erwarten, einen Freispruch. Aber das Tollste kommt noch. Einige Tage nach dem Prozeß tauchte ein Fremder im Büro meines Mannes auf und gratulierte ihm zu seiner guten Arbeit. Dann überreichte er ihm einen Umschlag, in dem fünfzigtausend Mark in bar steckten. Dann zwang er meinen Mann, eine Quittung zu unterschreiben. Bevor der Fremde ging, sagte er fast drohend, er gehe davon aus, daß mein Mann sich auch in Zukunft als kooperativ erweisen würde. Sie hätten ihn jetzt in der Hand.«
»Was hat Ihr Mann mit dem Geld gemacht?« fragte Hellmer.
»Er hat es auf ein Konto in Luxemburg gebracht, das auf den Namen unserer ältesten Tochter läuft. Insgesamt liegen auf diesem Konto mittlerweile zweihundertfünfzigtausend Mark.«
»Alles Schmiergelder?« fragte Julia Durant.
»Wenn Sie so wollen, ja. Aber was hätte er machen sollen?« fragte sie und schloß für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, fuhr sie fort: »Sollte er das Leben seiner Kinder riskieren? Oder meines oder seines? Das hätte er nie getan, dazu
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