Das achte Tor
ihn sein Weg wieder nach Ville Mont-Royal hinunterführte. Seine Familie wohnte in einem großzügigen Haus aus Naturstein und hellem Holz. Das hatte seinen Freunden damals anerkennende Pfiffe entlockt, obwohl auch sie aus wohlhabenden Familien stammten und eines der beiden französischen Gym-nasien in Montreal besuchten.
Nathan hätte die Arbeit seines Vaters nicht genau beschreiben können, doch er wusste, dass er sehr gut verdiente. Im Vergleich dazu schien der Job seiner Mutter, 27
einer Versicherungsexpertin bei einem Großkonzern, trotz eines stattlichen Gehalts eher den Charakter einer ehrenamtlichen Tätigkeit zu haben.
Geld macht nicht glücklich. Eine abgedroschene Phra-se, die sich Nathan zu eigen gemacht hatte, als ihm klar geworden war, dass sein Leben nicht normal verlief. Ein Bankkonto ersetzte niemals ein Lächeln. Und selbst wenn seine Eltern Millionen verdienten und seine finanziellen Bedürfnisse mehr als befriedigten, spürte Nathan oft einen Mangel an Zuneigung.
Aus der Tiefe stiegen Erinnerungen in ihm auf.
Seine Ausbildung war ganz und gar auf die schulische Entwicklung und das intellektuelle Niveau ausgerichtet.
Zusätzliche Kurse, Repetitorien, ihr Bestreben, aus ihm einen Sohn zu machen, der sich mit Leichtigkeit in den erlesensten Kreisen des Planeten bewegte, aber wenig Küsse, wenig Zärtlichkeit.
Liebe, selbstverständlich. Aber verhalten.
Zu verhalten.
Nathan fing an zu laufen. Er hatte es nicht unbedingt eilig, aber laufen – das hatte er schon sehr jung herausge-funden – half ihm, seine Gedanken zu ordnen und düstere Grübeleien, die ihm den Tag vermiesten, zu vertreiben.
Laufen war die Disziplin, bei der er sich seiner Anders-artigkeit bewusst geworden war. Schon als er sechs Jahre alt war und in Melbourne zur Schule ging, war sein da-maliger Sportlehrer ziemlich verwundert darüber gewesen, dass er in hohem Tempo eine halbe Stunde laufen konnte, ohne auch nur ein bisschen außer Atem zu geraten. Überzeugt davon, einen künftigen Champion, der 28
die Stadien erobern würde, unter seinen Fittichen zu haben, hatte er Nathans Eltern zu sich gebeten.
Drei Tage später waren sie weggezogen.
Es hatte eine Weile gedauert, bis Nathan begriff.
***
Als er die Haustür aufstieß, war es bereits dunkel.
Niemand war da. Seine Eltern hatten ihm eine Nachricht hinterlassen, dass sie an diesem Abend spät nach Hause kommen würden. Wieder einer dieser Empfän-ge, die Nathan das Gefühl vermittelten, ein Waise zu sein.
Auf Anweisung seiner Mutter hatte die Köchin nach ihrem Geschmack ein Essen zubereitet, Risotto mit Fischspießen, das er nur noch warm machen musste. Er bevorzugte einen Hot Dog, den er hinunterschlang, während er nebenbei einen Blick auf seine Hausaufgaben warf. Es hatte ihn nie viel Mühe gekostet, gute Noten zu erzielen.
Dann setzte er sich vor den Fernseher und zappte den ganzen Abend lang herum, bis er bei einem Film hängen blieb, den er für interessant genug erachtete.
Es war Mitternacht, als er ins Bett schlüpfte. Beim Einschlafen dachte er an Maud und daran, was er ihr am nächsten Morgen sagen würde, wenn er sie in der Schule wiedersah.
Der Lärm, den seine Eltern machten, als sie nach Hause kamen, riss ihn aus dem Schlaf. Der leuchtende Wecker auf seinem Nachttisch zeigte halb drei. Nathan rollte sich in seine Bettdecke ein. Als er die Augen wieder 29
schloss, beschlich ihn auf einmal ein seltsames Gefühl.
Nein, mehr als ein Gefühl. Eine Gewissheit.
Er stand auf und trat ans Fenster.
Es schneite.
Dicke Schneeflocken fielen herab und bedeckten die Straßenlaternen.
Nathan ertappte sich dabei, wie er glückselig lächelte.
Endlich!
Er griff nach seinen Kleidern, zog sich so leise wie möglich an und schlüpfte in seinen Parka. Das Fenster knarrte nur leicht, als er es öffnete.
Er hielt sich an der Regenrinne fest und ließ sich mit der Geschmeidigkeit einer Katze auf die Erde gleiten.
Mit neun Jahren hatte er in einem Sportclub in Dublin Gymnastik betrieben, und sein Trainer hatte ihm eine strahlende Zukunft versprochen. Kurz vor dem Umzug.
Als Nathan im Garten stand, breitete er die Arme aus und reckte den Kopf zum Himmel. Schneeflocken landeten auf seinem Gesicht, so sanft, dass sie ihm unwirklich erschienen. Und gar nicht kalt.
Magisch.
Es musste schon eine ganze Weile geschneit haben, denn ein weißer Schleier bedeckte die Pflanzen, den Boden und die Gebäude und hatte sämtliche Konturen verwischt.
Nathan vergrub seine
Weitere Kostenlose Bücher