Das Achtsamkeits Buch
mag!«
Carl Gustav Jung verankerte den Begriff »Komplex« in der Psychologie. Er meinte damit eine Gesamtheit von Gefühlen, Gedanken und Vorstellungen, etwas, das »die Tendenz hat, eine kleine eigene Persönlichkeit zu bilden … er benimmt sich wie eine Teilpersönlichkeit« (Jung, 1935). Weniger bekannt als Jung, aber für ein modernes Verständnis der menschlichen Psyche ebenso wegweisend ist Roberto Assagioli (1982, 1992) und seine bereits seit 1910 entwickelte Psychosynthese. Er und sein Schüler Ferrucci (2005) haben eine Sichtweise herausgearbeitet, mit der auch psychologische Laien sehr gut umgehen können. Erst in den letzten Jahrzehnten wurden wieder ähnliche Teilemodelle (vgl. Übersicht bei Hesse, 2003) entwickelt. Bekannt sind unter anderem der »Voice Dialog« (Stone & Stone, 1994), die Transaktionsanalyse (Berne, 1975), das »ego-states«-Modell (Watkins & Watkins, 2003), die »innere Familienkonferenz« (Schmidt, 1989) und die »Internal Family Systems Therapy« (Schwartz, 1997). In der Erwachsenenbildung und in Management-Trainings ist vor allem das Modell des »Inneren Teams« (Schulz von Thun, 1998) verbreitet.
Persönlichkeitsanteile entwickeln sich als Folge der individuellen Lebens- und Lerngeschichte. Schon als Kind lernt man, auf seine ganz persönliche Weise, auf bestimmte Situationen vorbereitet zu sein und das »richtige« Verhalten parat zu haben.
Gerrit L., eine 37-jährige Zahntechnikerin, war in der Umgebung eines ländlichen Hotelbetriebs aufgewachsen, in dem die Elternvon morgens früh bis abends spät tätig waren. Das persönliche Leben war kaum vom beruflichen zu unterscheiden. Auch Frau L. war schon als Kind eingespannt und hatte umfangreiche Verantwortungen. Dazu gehörte, dass sie zu allen Zeiten ansprechbar sein und zur Verfügung stehen musste. In diesem Umfeld entwickelte sie einen Zustand, in dem sie ihre eigenen Bedürfnisse hintan stellt – sie sogar ganz verliert – und nur darauf achtet, was andere brauchen. Diesen Zustand nennt sie die »Dienerin«. Gleichzeitig entwickelte sie damals aber auch ein Geheimleben, einen inneren, vor anderen verborgenen Zustand, den sie die »Revoluzzerin« nennt. Dieser Zustand/Teil möchte sich allem verweigern und kapselt sich gegen echte Begegnungen ab – vertraut niemandem. In ihrer Ehe kommt es aber immer wieder vor, dass sich dieser Persönlichkeitsanteil plötzlich und mit enormer Wucht zeigt. Dies geschieht meist dann, wenn sie wieder einmal zu lange und zu extrem im Zustand der Dienerin gewesen ist.
Persönlichkeitsanteile sind nicht mit sozialen Rollen gleichzusetzen, wie z.B. Ehefrau oder Bruder, Vorgesetzter oder Lehrer. Häufig ist es allerdings so, dass sich bestimmte Teile in gewissen Rollen besonders zuhause fühlen, etwa ein »Welterklärer« in der Rolle des Vaters, des Ehemanns, des Lehrers oder Beraters und eine »Fürsorgliche« in der Rolle der Mutter oder der Krankenschwester. Ein Persönlichkeitsanteil ist auch nicht einfach nur ein Gefühl, Wut ist nicht automatisch ein wütender Teil. Denn Wut kennen viele Teile, deren Aggressivität fühlt sich allerdings jeweils verschieden an: Ein »Trotzkopf« erlebt seine Wut anders als ein »Unbeherrschter« oder ein cholerisches »Teufelchen«. Die Ungeduld, die sich im Ärger eines effektiven »Machers« gegenüber Menschen zeigt, die bis ins letzte Detail noch diskutieren müssen, fällt anders aus als der Zorn eines »Gerechtigkeitskämpfers«.
Die verschiedenen Persönlichkeitsanteile beinhalten für einen Menschen typische Zustände, die sich selbst organisieren und immer wieder automatisch auftreten. Das klingt theoretisch,wird aber verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der ganze Mensch immer so »ist« wie der Teil, der gerade aktiviert ist. Wenn man sich in einem solchen Teil beziehungsweise Zustand befindet, verknüpfen sich die eigenen Gefühle, Sichtweisen, Gedanken, Erinnerungen, Körperempfindungen und Impulse zu einer ganzen Gestalt.
Karsten P. ist ein junger Manager in Führungsposition, der manchmal oberlehrerhaft und besserwisserisch wird. Er nennt diesen Zustand »Welterklärer«. Wenn er aktiviert ist, wird Herr P. angespannt, spricht lauter und schneller und seine Gedanken drehen sich darum, wie er den anderen sein Wissen vermitteln kann. Er ist dabei manchmal euphorisch, wenn er ganz begeistert bei den Sachinhalten ist, und manchmal gereizt, wenn er etwas zum wiederholten Mal erklären muss. In diesem Zustand
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