Das Achtsamkeits Buch
Gefühlszuständen oder automatischen Reaktionen auseinandersetzt, neigt man dazu, sich kritisch zu betrachten. Dazu ein Fallbeispiel:
Frau Birgit K. kann nicht gut mit sich allein sein. Wenn sie am Abend nach Hause kommt, spürt sie regelmäßig den Anflug von innerer Leere und Trostlosigkeit. In ihrer Einsamkeit fühlt sie sich dumpf und rastlos zugleich. Sie versucht, sich abzulenken, durch Fernsehen, Essen, Naschen, Trinken. Oft schon in diesem Zustand, spätestens aber am nächsten Morgen, ärgert sie sich darüber, dass sie diesen unangenehmen Gefühlen so ausgeliefert ist. Noch mehr stört es sie aber, dass sie von ihnen so beherrscht wird, dass sie sich nur mit dem ungesunden Ess- und Trinkverhalten betäuben kann. Sie fragt sich dann, wieso sie es in solchen Momenten nicht schafft, sich aufzuraffen und etwas Sinnvolles zu unternehmen.
Diese Selbstkritik führt jedoch zu keiner Veränderung, sondern zum Gegenteil dessen, was sie anstrebt: Sie erhöht die innere Spannung und das Gefühl von Unzulänglichkeit, Frau K. fühlt sich noch unfähiger. Dies wiederum verstärkt die Impulse, sich mit Essen, Trinken und Fernsehen zu betäuben.
Ein häufiger Grund, solche unangenehmen Zustände nicht genauer zu betrachten, ist die Befürchtung, dass sie noch schlimmer werden, wenn man sie bewusster wahrnimmt. Um von schmerzhaften Gefühlen wie z.B. Trauer, Enttäuschung, Einsamkeit nicht noch mehr vereinnahmt oder gar überwältigt zu werden, versucht man, so gut es geht, sie zu verdrängen, zu bekämpfen oder zu kontrollieren. Man will Belastendes meist nicht wahrhaben, wertet Gefühle ab oder lenkt sich ab. Der gegenteilige Weg, sich dem Unangenehmen bewusst zuzuwenden und dafür sogar achtsamer zu werden, ist für die meisten Menschen eher ungewohnt und fremd.
Eine neugierig annehmende Haltung gegenüber schwierigeninneren Zuständen zu finden, ist wohl die größte Hürde auf dem Weg zur Selbstführung. Denn Ausgangspunkte zur Selbstführung sind ja gerade jene Aspekte der eigenen Person, mit denen man nicht zufrieden ist und auf die man eher kritisch blickt. Man will sie verändern. Das ist nicht leicht in Einklang zu bringen mit einer offenen, interessierten Haltung. Oft leidet man so unter bestimmten Gewohnheiten, Eigenschaften, Gefühlszuständen oder Gedanken, dass man bei ihrem Auftauchen sofort versucht, sie zu verändern oder sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Unabhängig davon, ob das gelingt oder nicht, diese Impulse erhöhen fast immer die Intensität des an die Oberfläche drängenden Gefühls, etwa so, wie sich der Auftrieb erhöht, wenn man einen schwimmenden Ball unter Wasser drückt.
Unvoreingenommene Offenheit und Neugier sind jedoch eine wesentliche Voraussetzung dafür, die Hintergründe und Facetten der eigenen Persönlichkeit feiner wahrzunehmen und zu erforschen. Hier spielt das Training der Achtsamkeit und die Schulung des »Beobachters« eine entscheidende Rolle. Wer geübt ist, auftauchende Gedanken, Impulse oder Körperempfindungen während der Achtsamkeits-Übung aus einer annehmenden, gleichmütigen Haltung wahrzunehmen, kann sie mit etwas Abstand beobachten. Und er tut sich leichter, diese Geisteshaltung auch auf solche eher unangenehmen Zustände im Alltag zu übertragen.
Mit dieser Haltung könnte sich Birgit K., während solche unangenehme Zustände auftauchen, innerlich fragen: »Was für eine Art von Nervosität oder Einsamkeit ist das eigentlich?«, »Was schwingt da noch mit, was kann ich noch wahrnehmen?«
Auch im Anschluss an impulsive Reaktionen zum Beispiel, über die man sich im Nachhinein ärgert, kann man für eine kurze Weile achtsam werden und genauer hinspüren: »Was genau empfinde ich bei diesen Worten? Was ist da in mir getroffen?«
Mit der interessierten, neugierigen Grundhaltung des Beobachters erhöht sich die Chance, Neues über sich zu erfahren. Und mit mehr Informationen über störende Aspekte kann man oft schon besser damit umgehen. Bemerkenswert ist, dass sich Gefühle und aufdrängende Gedanken meist beruhigen, wenn sie auf diese Weise wahr- und ernstgenommen werden.
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