Das Aion - Kinder der Sonne
besser als normale Menschen.
Während Miras Iris in allen Regenbogenfarben schillerte, waren ihre Pupillen bei Sonnenlicht kaum größer als Sandkörner. Vielleicht war es dieser durchdringende Blick, der Menschen wie Jiril Unbehagen bereitete. Nachts hingegen weiteten sich ihre Pupillen so extrem, dass sie funkelnden schwarzen Kristallen glichen. Sie wurden zu Jägeraugen, wie Mira es nannte. Bausch hingegen hatte es Mira gegenüber stets den ›stechenden Blick‹ genannt.
Nun erkannte Mira auch, weshalb die Schlucht ihren Namen trug: Ihr Boden war bedeckt von den Knochen zahlloser Skelette – die traurigen Überreste jener unglücklichen Tiere, die im Laufe der Jahre oder gar Jahrhunderte in die Schlucht gestürzt waren. Dort, wo das Sonnenlicht als blendende Lichtsäule dennoch den Boden erreichte, hingen Wolken aus Millionen schwärmender Mücken in der Luft.
Als Mira einen Blick nach oben warf, erkannte sie, dass ein Großteil des Tageslichts von unzähligen schleierartigen Gebilden geschluckt wurde, die von einer Felswand zur anderen gespannt waren. Sie begannen in einer Höhe von 40 oder 50 Metern und sahen aus wie Gazesegel, die sich sanft im Wind bewegten.
»Was sind das für seltsame Tücher?«, fragte sie.
Jiril riskierte einen kurzen Blick und brummte: »Glaub mir, das willst du nicht wirklich wissen …«
»Und ob ich das will!«
Jiril verdrehte die Augen. »Araneus colonus«, murmelte er kaum hörbar.
Mira kniff die Augen zusammen. »Was?«
»Es sind die Fangnetze von Siedlerspinnen«, erklärte ihnen Dr. Gayot in einem betont sachlichen, fast schon gelangweilten Tonfall. »Eine Kolonie von bis zu 30 Tieren teilt sich sowohl ein Netz als auch die gemeinsame Beute. Die meisten Tiere, deren Knochen hier unten verstreut liegen, haben sich nicht unmittelbar zu Tode gestürzt, sondern sind zuerst in den Fangnetzen gelandet.«
Mira sah beunruhigt in die Höhe. »Wie groß sind denn diese Spinnen?«
»Leg die Hände aneinander und spreiz die Finger«, sagte Jiril. Und als er Miras entsetzten Blick bemerkte: »Du wolltest es ja unbedingt wissen.«
»Mach dir deswegen keine Gedanken«, sagte Ben. »Sie kommen erst bei Dunkelheit heraus …«
»Erst bei Dunkelheit?!«, echote Mira und kauerte sich auf ihrem Sitz zusammen. »Hier unten ist es doch fast Nacht!«
Die nächsten Kilometer verbrachte Mira in der furchtsamen Erwartung, plötzlich ein lautes Plumpsen neben sich zu hören und kurz darauf ein achtbeiniges Etwas auf sich zukrabbeln zu sehen. Sie fühlte sich aus den Felswänden herab von Tausenden hungriger Spinnenaugen beobachtet. Der Gedanke, dass der Rigger in einer der finsteren Biegungen mit einem Defekt liegen bleiben könnte und sie in der Schlucht festsaßen, bescherte ihr Schweißausbrüche. Als Ben ihr unerwartet eine Hand auf die Schulter legte, um sie zu beruhigen, wäre sie vor Schreck fast gestorben.
Irgendwann wurde es wieder etwas heller, und als Mira in die Höhe sah, konnte sie keines der Spinnennetze mehr entdecken. Erleichtert machte sie es sich auf dem Sitz bequem, stützte ihre Füße auf das Instrumentenpaneel, legte den Kopf in den Nacken und blickte sehnsüchtig die Felswände empor zu dem schmalen blauen Band, das vom Grund der Schlucht aus noch vom Himmel zu sehen war. Die vorbeiziehenden Steilwände wurden niedriger und wichen langsam zurück, sodass Jiril den Rigger wieder beschleunigen konnte. Schließlich öffnete sich die Skelettschlucht zu einer kilometerbreiten, von niedrigen Steilwänden umsäumten Ebene, die von den riesigen Wanderdünen der Sandwüste umgeben war.
»Der Chott el Sijr«, sagte Dr. Gayot. »Was wir hier sehen, ist der Boden eines ausgetrockneten Sees, der sich vor Jahrtausenden an den Bergen aufgestaut hatte.«
Sie hatten die Schlucht kaum verlassen, da schaltete Jiril die Heckrotoren so abrupt auf Rückschub, dass Mira alle Haare ins Gesicht geblasen wurden. Gleichzeitig wurde das Luftkissenboot so stark abgebremst, dass sie mit einem Aufschrei vom Sitz rutschte und sich unvermittelt im Fußraum wiederfand. Auch Delius und Dr. Gayot wurden nach vorn geschleudert und krachten gegen die Rücklehnen der Sitzbänke.
»Sag mal, spinnst du?!«, fuhr Mira Jiril an, während sie sich wieder aufrappelte. »Ich hätte mir alle Knochen brechen …«
Ben legte ihr eine Hand auf den Mund und bedeutete ihr mit einer eindringlichen Geste, still zu sein. Statt den Grund dafür zu erklären, zeigte er nach vorne.
Im ersten Moment konnte Mira das,
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