Das Aktmodell
ringend hervor. Früher oder später werden wir in die falsche Straße einbiegen, eine Sackgasse vielleicht. Und dann werden wir uns den Verfolgern stellen müssen und um unser Leben kämpfen.
Direkt nachdem wir das Haus in der Rue des Moulins verlassen hatten, machte Paul mich darauf aufmerksam, dass wir uns in Gefahr befanden. Und anstatt direkt zum
Gare St. Lazare
zu gehen, müssen wir nun die Männer abschütteln, die uns verfolgen. Und zwar schnell, wenn wir nicht den Zug verpassen wollen.
Es ist Lord Bingham mit seinen Männern, sagt mir Paul. Der Gedanke lässt mich erzittern. Wie hatte ich nur glauben können, ihm so einfach zu entkommen?
“Bleib ganz in meiner Nähe, Autumn. Ich kenne mich hier aus. Der Duke nicht.”
Er greift meine Hand, und wir rennen über die Straße, lassen uns nicht von den hupenden Hörnern beirren, als wir gerade noch einer Pferdekutsche ausweichen. Wir versuchen uns zwischen die morgendlichen Pendler zu mischen, die mit ihren Schirmen unterwegs sind, als der Nebel sich zu einem sanften Schleier verdichtet und sich schützend um uns legt.
“Paul, bitte warte …”
“Wir können nicht stehen bleiben, Autumn. Ich kann es nicht zulassen, dass sie dich mir wegnehmen.”
Ich drücke seinen Arm. “Niemand kann uns auseinanderbringen, Paul.”
Aber als ich meinen Kopf drehe, sehe ich einen Mann hinter uns her laufen, und dann noch einen. Mich überkommt das schreckliche Gefühl, dass unsere Flucht unter keinem guten Stern steht. Was ist nur los mit diesem Engländer, der uns nicht in Ruhe lassen will?
Ich fühle Pauls Anspannung und weiß, was er denkt: Wir werden nicht aufgeben.
Paul zieht mich in die Passage der
Galerie Véro-Dodat.
Sie ist wie dafür gemacht, jemanden in der Dunkelheit zwischen ihren geschlossenen Läden zu verstecken.
Es war eine gute Idee von Paul, hier zu versuchen, sie abzuschütteln. Ihm sind die Passagen vertraut, die Schaufenster mit ihren eisernen Fensterrahmen und kleinen Säulen. Diese zahlreichen Einkaufspassagen gehen über mehrere Straßenblöcke, angefangen beim Louvre und endend am Grand Boulevard. Eine eigene kleine Stadt für sich.
Gaslaternen werfen ein gedämpftes Licht auf die schwarz-weiß gekachelten Mosaikböden und zaubern eine fast überirdische Atmosphäre. Ich schaue mich in der langen Passage um. Von dem Duke und seinen Männern ist nichts zu sehen. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass sie uns dicht auf den Fersen sind.
Wir eilen an der Druckerei vorbei, einem Ledergeschäft und einem Tabakwarenkiosk. Sind wir ihnen endlich entkommen? Wer weiß …
Langsam wird die Zeit knapp, und Paul schlägt vor, dass wir uns trennen. Er wird sich den Duke und die Männer einzeln vornehmen, gibt er vor mir an. Ich sage Nein. Ich will nicht riskieren, ihn wieder zu verlieren. Dazu sind wir jetzt zu weit gekommen. Zögernd gibt er nach.
Dann sehen wir den Duke und den Mann mit der Melone. Sie kommen aus einem Café am westlichen Ende des Ganges. Paul dreht sich um, entdeckt die Männer, und schnell verschwinden wir in einer anderen Passage. Aber der Duke, der Mann mit der Melone und ein weiterer Herr folgen uns einen langen Block hinunter durch einen ruhigen Seiteneingang ins
Palais Royal.
“Lass meine Hand nicht los, Autumn.”
“Ich werde dich nie wieder loslassen”, stoße ich atemlos hervor, als wir durch die engen Gassen rennen und die Schatten der kleinen Nischen mir ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Paul spielt mit den Verfolgern, verschwindet in Geschäften und rennt wieder weiter. Er versucht sie zu ermüden. Mit meinem langen Kleid, dem hochgerafften Petticoat und meinen engen Schuhen versuche ich so gut wie möglich Schritt zu halten. Die Geschäftsleute und Passanten starren uns verdutzt nach, als wir an ihnen vorbeilaufen.
Vivre et laissez vivre.
Leben und leben lassen.
“Was ist, wenn der Duke und seine Männer uns einholen?”
Paul sieht mich an und beantwortet die unausgesprochene Frage, die in meinen Augen zu lesen ist. “Eher bringe ich sie um”, sagt er, “als dass ich zulasse, dass dir etwas geschieht.”
An den Händen gefasst und völlig außer Atem verlassen wir wenig später die Einkaufspassage. Ein nebliger Schleier hat sich über die Zitronenbäume des Gartens in der Nähe des
Palais Royal
gelegt, als wir ihn durchqueren und den Eingang zur
Galerie Colbert
erreichen.
Ich reiße meinen Kopf herum und stoße beinahe mit einem jungen Kerl zusammen, der einen Reifen an uns vorbeirollt, als ich den
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