Das Aktmodell
Knöpfe sich nicht schließen lassen und meine Brüste halb enthüllen. Nicht dass ich mich beschweren will, denn seit meiner Verwandlung habe ich auch ohne Wonderbra ein beeindruckendes Dekolleté. Aber ich denke, dass ich vielleicht doch den roten Umhang hätte mitnehmen sollen, auch wenn es so ein schöner, sonniger Tag ist.
Das Korsett konnte ich vergessen. Mit den seidenen Verschnürungen hinten und vorn habe ich mich vergeblich abgemüht. Aber ich wollte auch Paul nicht wecken, um ihn zu bitten, mir zu helfen. Denn er hätte es mir sicher lieber wieder ausgezogen, als es zuzuschnüren.
Paul. Meine Muschi pulsiert allein bei dem Gedanken an ihn. So jung und potent. Und erfahren. Er weiß, wie er meine Nippel streicheln und dann leicht kneifen muss, nicht zu hart, aber fest genug, um einen Schauer von Schmerz und Lust durch meinen Körper zu schicken. Ich vermisse ihn schon jetzt, und dabei sind wir erst eine Stunde oder so getrennt. Ich halte an und schaue mich um. Wo bin ich eigentlich? Ich erkenne die Place du Tertre, einen kleinen Platz, auf dem sich in meinem Zeitalter die Touristen versammeln, um die einfachen Behausungen von van Gogh und Renoir zu bestaunen. Gänsehaut läuft mir über die nackten Arme. Wer hätte schon gedacht, dass ich einmal in direkter Nachbarschaft zu diesen unsterblichen Künstlern leben würde?
Mein Magen knurrt. Brot kommt vor Kunst.
Vorhin hatte ich eine Bäckerei mit blau gedecktem Dach gefunden, die auf Blechgestellen frische Baguetten anbot, mindestens einen Meter lang. Mit einem Laib Brot unter dem Arm kaufte ich noch etwas Käse in einer
Charcuterie
, die leckere Hors d’œuvres im Fenster ausgestellt hatten.
Mein Frühstück habe ich übrigens den herumliegenden Münzen zu verdanken, die überall im Atelier auf dem Boden verstreut lagen, einem Atelier ohne warmes Wasser oder Toilette. Zum Glück war der kleine Innenhof leer, als ich mich vorhin über ein kleines Loch setzte, um meine Notdurft neben einigen vertrockneten Gräsern zu verrichten.
Ich wandere immer noch die Straßen von Montmartre entlang, zurück zur Rue Caulaincourt, Hausnummer 28. Einige alte Männer spielen im Park Boule, eine Art Bowling, auf dem Rasen. Der süße Duft der Rosen weht von den Blumenhändlern herüber, und Straßenhändler bieten laut rufend ihre Waren an.
Chiffons à vendre, Lumpen zu verkaufen.
An einem Süßwarengeschäft bleibe ich stehen, und beim Anblick der herrlichen Schokolade läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Fast lasse ich vor Schreck das Brot fallen, als ich mich am Schaufenster des nächsten Ladens einem Pferdekopf Auge in Auge gegenübersehe.
Pferdefleisch zu verkaufen
steht daneben. Ich halte den Atem an und wage erst wieder Luft zu holen, als ich den schrecklichen Geruch hinter mir gelassen habe.
Ich reibe Arme und Beine, die klebrig geworden sind von der feuchten Hitze, und befeuchte meine Lippen. Mein Mund ist ganz trocken. Was würde ich jetzt nicht für eine Tasse Kaffee geben. Selbst ein
café ordinaire
, dieses billige Gebräu aus Wasser und Zichorie, das so typisch ist für Paris, wäre mir jetzt recht. Ich schaue geradeaus, und trotz meines schweren Petticoats laufe ich ein wenig schneller die Straße entlang, die in eine kleine Gasse mündet, die wiederum auf eine andere kleine Straße führt. Die Luft ist so trocken, dass meine Kehle sich ganz rau anfühlt. Ich habe mich verlaufen. Mist!
Ich gehe weiter, das Brot und den Käse fest in der Hand. Ich
muss
Pauls Studio finden. Es liegt in einem fünfstöckigen Haus, die Hausnummer ist gut sichtbar über dem Torbogen aufgemalt, die langen Fenster mit den roten Rahmen sehen leicht ramponiert aus, und die knarrende blaue Tür hängt schief in den Angeln. In die Wand eingeritzt sind die Namen Gaugin, Mucha, van Gogh … und Paul Borquet.
Die zerbrochenen Pflastersteine knirschen unter meinen Füßen und erinnern mich daran, wie ich vorhin die Namen der einzelnen Maler mit dem Finger nachgezogen habe, langsam, so als ob ich die Seiten eines Geschichtsbuches umschlüge.
Die Hand, in der ich den eingewickelten Käse halte, beginnt zu zittern, und eiskalte Schauer durchfahren meine Knochen. Erst jetzt wird mir so richtig bewusst, was ich hier eigentlich gefunden habe. Ich lebe in der Zeit dieser großartigen Maler. Ich habe die Schwelle zu der anderen Seite überschritten. Gibt es für mich noch ein Zurück?
Will ich das überhaupt?
Ich hole tief Luft, ein Schweißtropfen rinnt meine Nase herunter und tropft
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