Das Aktmodell
schreien beginnt. Aber ich bleibe still.
Meine Knie zittern, als ich die drei Stufen des Wagens erklimme. Ich weiß, dass der Polizist nur darauf wartet, dass ich einen Fehler mache, damit er mein Mieder herunterreißen kann, um meine nackten Brüste zu sehen. Auf der obersten Stufe bleibe ich stehen, und ein seltsames Gefühl überkommt mich. Egal wie tapfer ich nach außen wirke, ich habe auf einmal schreckliche Angst!
Ich fürchte mich davor, dass es vielleicht keine Wiederkehr von diesem Ort mehr gibt.
“Nun geh schon
, ma petite fille”
, sagt der Sergeant und stößt mich in den Wagen. Mit den Händen versuche ich die Balance zu halten, damit ich nicht falle. Mit gesenktem Kopf setze ich mich auf den letzten freien Platz. Niemand sieht mich an. Niemand spricht. Jede Frau ist allein mit ihren Gedanken.
Ich lehne meinen Kopf gegen die Bretter des Wagens und versuche nachzudenken, aber es geht nicht. Eine Frau beginnt zu weinen, eine andere hustet. Der Geruch von Zigarettenrauch zieht durch die Luft. Ich schließe meine Augen, aber die Dunkelheit, die meine Seele umfängt, kann ich nicht ausschließen. Ich fürchte, der finstere Höhepunkt meines Melodrams liegt noch vor mir. Der Sergeant steckt seinen Kopf herein und schaut sich um. Er zählt die Frauen in einem tiefen Flüstern ab und zischt die Zahlen durch seine Zähne: “… fünf, sechs, sieben …”
Zufrieden, dass wir vollzählig sind, betrachtet er die Gefangenen in dem dämmrigen Wagen, befeuchtet seine Lippen und reibt seine Finger aneinander. Seine Augen ruhen auf mir. “Habt eine schöne Reise, Mademoiselle. Ich werde Euch bald wiedersehen.”
Lachend wirft er die Tür zu, und wir befinden uns nun in völliger Dunkelheit. Ich höre, wie er dem Fahrer Anweisungen gibt, und der Wagen fährt ruckartig los.
Ich merke, wie ich von der Bank rutsche, aber bevor ich auf den Boden fallen kann, hält mich jemand an der Taille fest. Es sind die Hände einer Frau. Als diese weiter nach unten auf meine Hüfte gleiten, höre ich jemanden lustvoll stöhnen. Sekunden später nähert sich eine zweite Frau und umfasst von hinten meine Brüste. Eine neue Angst überfällt mich. Ich kann meinen schweren Atem in der Dunkelheit hören. Schnelle, tiefe Atemzüge. Der Überlebensinstinkt meldet sich in mir. Ich greife nach den Händen der Frau, die mit meinen Brüsten spielt. Ihre Finger sind kalt. “Behaltet Eure Hände bei Euch!”, schreie ich sie an, und dann befreie ich mich von den Frauenhänden auf meinen Hüften.
“Wir machen uns doch erst miteinander bekannt,
ma fille”
, flüstert eine rauchige Stimme im Dunkeln.
“Seht Euch vor, Mademoiselle”, warnt nun eine andere Stimme, “Ihr könntet verletzt werden, wenn Ihr die Regeln nicht kennt.”
Der sinnliche Unterton in den Stimmen der Frauen ist einladend und verlockend. Ich versteife mich. Es scheint, als ob mich im Gefängnis eine neue Art von Gefahr erwartet.
Ich verkrieche mich in der Ecke, und der klapprige Wagen schüttelt mich durch und durch. Ich umschlinge meine Knie und vergrabe meinen Kopf dazwischen. Ich lausche. Fühle. Die Dunkelheit um mich herum ist warm und geheimnisvoll. Für einen Moment fühle ich mich selig geborgen wie ein Baby im Mutterleib.
Ich rolle mich schützend zu einem Ball zusammen, lege meine Hände auf meine Augen und stelle mich innerlich auf den Wahnsinn des Ortes ein, der mich erwartet: St. Lazare.
Meine Gedanken drehen sich nur um Flucht, als ich die Frauen eine nach der anderen hinter dem schwer beschlagenen Tor des Gefängnisses von St. Lazare verschwinden sehe. Ich halte meine Augen auf den langen dunklen Korridor gerichtet, der zum äußeren Gefängnishof führt, hoffend und betend, dass ich den Mut finde, zu fliehen.
Aber wohin soll ich gehen? Zurück nach Montmartre, zurück zu Paul Borquet? Wird er auf mich warten? Oder ist er wie all die anderen Männer in meinem Leben? Lässt mich für eine Blondine sitzen?
Vergiss nicht, du bist jung, schön und hast einen fantastischen Körper. Er wird warten!
Ich schüttle den Kopf. Wieso genügt mir das nicht? Würde er mich auch lieben, wenn ich nicht jung wäre? Das darf ich nicht riskieren. Dann könnte ich ihn verlieren. Ich darf mich niemals in ihn verlieben.
Das habe ich alles dir zu verdanken, Min!
Ich huste. Die Luft ist stickig, und der Geruch der Gefangenen hängt schwer im Raum. Ich habe das Gefühl, zu ersticken. Wieso geht das nicht voran? Ich halte dieses Warten nicht mehr länger
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