Das Albtraumreich des Edward Moon
zahlreicher neidischer
Blicke.
Offenbar ist der Präsident (oder Love
1, wie er von meinen Vorgesetzten genannt wird) eine Art Einsiedler. Nur wenige
meiner Kollegen haben den Mann (es
ist
natürlich ein Mann – selbst bei
Love
ist man nicht derart fortschrittlich!) je kennengelernt. Dieses bedeutsame
Treffen wurde für übermorgen festgesetzt. Sobald ich davon zurück bin, werde
ich Dir alles berichten.
Wieder muss ich Dir diesen Brief über
893 zukommen lassen. Ich bekam die Zusage für ein Verlassen des Hauses Ende der
Woche, also werde ich dann vermutlich meine nächste Botschaft an Dich absenden
können.
Die Atmosphäre hier erscheint mir noch
angespannter als gestern. Diese Leute warten auf etwas – und worum es sich
dabei auch handelt, ich fange an zu argwöhnen, dass man sich nur bei
Love
über sein Eintreffen freuen wird.
Ich schreibe wieder, sobald ich kann.
Herzliche Grüße an den Schlafwandler.
Charlotte
Mister Skimpole schleppte sich
niedergeschlagen in die Räume des Direktoriums; seine Stimmung war dank der
hartnäckigen Dienstverweigerung des Aufzugs und der darauffolgenden
Notwendigkeit, die Treppe zu nehmen, noch elender geworden. Obwohl er sich nach
Kräften bemühte, seine Vergiftungssymptome zu verschleiern, waren sie heftig,
unerbittlich und unumkehrbar. Andauernd heiser und kurzatmig, dazu unsicher auf
den Beinen, war er wie ein alter Säufer gezwungen, seine ganze Konzentration
aufzubieten, nur um aufrecht und geradeaus zu gehen. Manche mögen es als Ironie
betrachten, dass ein Mann nach einem Leben der Abstinenz und Mäßigung enden
sollte wie die Kopie eines Trunkenbolds. Selbstredend würde ich selbst mich nie
zu solch einer derben, gefühllosen Anmerkung hinreißen lassen.
Beim Ankleiden am Morgen hatte Skimpole das
Vorhandensein von fünf oder sechs frischen wunden Stellen entdeckt, die sich
über seinen ganzen Unterleib verteilten und seine Genitalien mit einem
schuppenden, juckenden Ausschlag sprenkelten. Noch schlimmer war der Umstand,
dass die Schmerzattacken sich zusehends häuften; sogleich bei ihrem Einsetzen
musste Skimpole den Raum verlassen, bevor ihre Kneifzangen gnadenlos in seine
Eingeweide bissen.
Aber heute kam er nicht allein ins Direktorium:
Sein Sohn war bei ihm. Als der Junge die Treppe hinab und durchs Zimmer zu dem
runden Tisch humpelte, erinnerte das Klick-klack seiner Krücken an einen Zug,
der über die Nahtstellen alter Schienen rattert. Es war ein klägliches Paar,
das die beiden abgaben – zwei Ausreißer aus einem Heim für Krüppel oder
ein Duo vom Schicksal Gebeutelter, denen ein besonders grausames Armenhaus die
Aufnahme verweigert hatte.
Dedlock war bereits da und wartete auf seinem
gewohnten Stuhl, aber neben ihm saß ein Fremder – ein hoch gewachsener,
elegant gekleideter glattrasierter Mann, der Zurückhaltung und guten Geschmack
ausstrahlte. Verglichen mit den beiden fühlte Skimpole sich noch spindeldürrer
und kümmerlicher als je zuvor. Er zog ein Taschentuch hervor, wischte sich über
die Stirn und holte tief Atem, fest entschlossen, seine Schwäche nicht zu
zeigen. So brachte er zwar gerade noch ein »Guten Morgen« hervor, danach jedoch
verfiel er in hilfloses Stottern.
Ungläubig starrte Dedlock den Jungen an.
Skimpole versuchte ein Lächeln, doch es verging
ihm auf halbem Wege, als er die steinernen Mienen der beiden Männer sah.
»Kennen Sie meinen Sohn?«, fragte er so gelassen wie möglich. Der Junge
versuchte einen Gruß, brachte jedoch nur einen jämmerlichen keuchenden
Hustenanfall zustande.
»Ihren Sohn?«, fragte der Fremde in einem Tonfall,
als hätte er das Wort noch nie gehört. »Ihren
Sohn
?«, wiederholte
er – wahrscheinlich nur um sicherzugehen, dass man ihn beim ersten Mal
richtig verstanden hatte. »Wollen Sie uns im Ernst sagen, dass Sie ein Kind
hierher gebracht haben? Nicht einmal drei Dutzend Menschen ist die Existenz
dieser Örtlichkeit bekannt, und Sie bringen Ihren Sohn her? Gott im Himmel,
Mann! Wo, glauben Sie, befinden Sie sich hier?«
»Es tut mir leid«, stammelte Skimpole, »ich wollte
nur bei ihm sein.«
»Ich fürchte, du musst ihn nach Hause schicken«,
sagte Dedlock in sanfterem, weniger aggressivem Tonfall als der Fremde.
Skimpole kämpfte mit den Tränen. »Das kann ich
nicht. Ich brauche ihn in meiner Nähe. Er darf nicht allein nach Hause gehen.
Ich bin sicher, wir wurden auf dem Weg hierher verfolgt. Wir haben sie
abgeschüttelt, aber es ist ja nicht das erste Mal. Bei weitem
Weitere Kostenlose Bücher