Das Albtraumreich des Edward Moon
sein, ein hohes Tier; die Tage mit seinem hölzernen
Banner liegen offenbar weit hinter ihm.
Ich kenne den Grund nicht, aber gleich
heute wurde uns aufgetragen, massenhaft Schriftstücke zu verbrennen. Ich konnte
noch rechtzeitig einen Blick darauf werfen, ehe alles im Feuer landete: Das
Material stammte aus jüngster Zeit und bezog sich auf irgendeine Art von
Zusammenlegung der beträchtlichen Vermögenswerte der Organisation. Ich habe
nicht die leiseste Ahnung, weshalb
Love
Unterlagen vernichten sollte. Vielleicht müsste ich nur fragen, aber bisher
habe ich mich Deinen Anweisungen entsprechend bemüht, so wenig wie möglich
aufzufallen. Ich möchte nicht plötzlich neugierig erscheinen und dadurch
Misstrauen erwecken.
Das ist alles, was ich Dir für den
Augenblick berichten kann. Ich werde Dir schreiben, sobald es mir wieder
möglich ist.
Deine Dich liebende Schwester
Charlotte
FÜNFZEHN
Ich bin seit langem der Überzeugung,
dass die Stadt, das Land, ja, auch die übrige Welt draußen ausgerechnet von den
falschen Leuten geführt werden. Angefangen von der Regierung über die großen
Kreditinstitute und den Hochadel bis zur Polizei wird unser Leben ausnahmslos
von den Dummen und Habsüchtigen, den Bestechlichen, Raubgierigen und
unverdientermaßen Reichen kontrolliert. Um wie viel angenehmer wäre es, würden
sich die Herrschenden dieser Welt nicht aus jenen rekrutieren, die durch ihre
Kennerschaft für Banken und ihre Bilanzen, ausländische Geheimkonten und
Wahlurnen hervorstechen, sondern aus den Reihen der ganz gewöhnlichen
Leute – der ehrlichen, gutmütigen, beherzten Alltagsmenschen.
Im Laufe dieses Berichts haben wir wenige solch
vorbildliche Personen kennengelernt. Mrs Grossmith, vielleicht. Den
Schlafwandler. Mina, die Bärtige. Dieser Liste können wir nunmehr einen
weiteren Namen hinzufügen: Miss Gillman, die sanftmütige Dame aus Highgate.
Als Moon und der Schlafwandler auf ihrer Schwelle
erschienen, fanden sie und der Hüne augenblicklich Gefallen aneinander;
vielleicht spürten sie eine gewisse Verwandtschaft ihrer Seelen – und die
sie verbindende nachsichtige Betrachtung der Welt.
Aber der Schlafwandler war verwirrt. Er musste
sehr an sich halten, um dem Drang, sich den Kopf zu kratzen, zu
widerstehen – verursacht teils durch echte Verwirrung, teils durch seine
Perücke, die scheußlich juckte. Einen kleinen Trost lieferte ihm jedoch der
Umstand, dass Miss Gillman ganz genauso durcheinander schien wie er. Und wie so
oft war die einzige Person, die den Überblick über das Geschehen hatte, Edward
Moon.
»Miss Gillman«, fragte er, als die Gastgeberin an
ihrem Tee nippte, »erkennen Sie dies hier?« Er hielt ihr das dünne schwarze
Buch hin, das Barabbas ihm in Newgate gegeben hatte – seine Ausgabe der
Lyrischen
Balladen
.
Die alte Dame klappte den Umschlag auf und las die
Widmung darunter. »Das ist meines!«, rief sie verblüfft. »Und ich dachte, es
wäre für immer verlorengegangen!«
»Die Widmung … bezieht sie sich auf Ihren
Vater?«
»Wie gelangte es in Ihre Hände?«
»Ein Erbstück.« Moon log gewandt und ohne Hemmung.
»Ich glaube, der letzte Eigentümer hat es bei einer Auktion ersteigert.«
»Tatsächlich? Ich muss gestehen, ich hielt Sie nie
für einen Liebhaber poetischer Verse … Ihr Ruf eilt Ihnen natürlich
voraus. Es überrascht mich wirklich.«
»Ich interessiere mich erst seit kurzem dafür. Auf
Empfehlung eines alten Freundes.«
»Aber ich fürchte, ich sehe nicht recht, worin ich
Ihnen eine Hilfe sein könnte. Es ist ein Jammer, dass mein Vater nicht mehr
lebt. Er wäre Ihnen von weitaus größerem Nutzen gewesen als ich.«
»Erzählen Sie uns einfach, soviel Sie können.«
»Es ist doch schon so lange her«, bemerkte sie
zweifelnd.
»Von all denen, die die Ehre hatten, den Dichter
persönlich zu kennen«, sagte Moon und gab dem Schlafwandler einen Klaps auf die
Hand, ehe dieser sie zum neunten Mal nach dem Kuchenteller ausstrecken konnte,
»sind Sie, soweit mir bekannt ist, die letzte noch lebende Zeitzeugin.«
Der Anflug eines sarkastischen Lächelns. »Was auf
seine Weise wohl auch eine Ehre ist«, sagte Miss Gillman. »Aber ich war
natürlich noch ein kleines Mädchen, als Mister Coleridge starb. Wussten Sie,
dass er ganz in der Nähe, auf unserem Friedhof, begraben liegt? Er war trotz
allem ein lieber Mensch.«
»Und er lebte hier bei Ihnen?«
»O ja, er wohnte jahrelang oben im Stock. Ich
zeige Ihnen gern sein Zimmer. Mein Vater
Weitere Kostenlose Bücher