Das Albtraumreich des Edward Moon
sorgte für ihn, bis er starb; Vater
erhielt wohl eine Art regelmäßiges Entgelt, aber ich glaube, er tat es in
erster Linie aus Menschenliebe. Mister Coleridge gehörte zur Familie. Ein
zweiter Großvater für mich, wenn Sie so wollen. Zu der Zeit hatte er bereits
fast völlig aufgehört zu schreiben; seine besten Tage lagen da schon lange
zurück. Und wie Sie wissen, war er mittlerweile zum Sklaven dieses ekelhaften
Opiums geworden. Es erwies sich für uns alle als ein Quell großen Kummers.«
»Fahren Sie fort.«
Miss Gillman sprach fast eine Stunde lang,
glücklich, ihre Erinnerungen an den bemerkenswerten Mann, mit dem sie ihre
Kindheit verbracht hatte, wieder aufleben zu lassen. Sie erzählte, wie der
Dichter, verlassen von Frau und Kind, entflohen aus einer unglücklichen Liebe
und fallen gelassen von Freunden und Bewunderern, nach Highgate gekommen war,
um als eine Mischung aus Mieter und Patient im Haushalt der Gillmans
unterzukommen, wo alle hofften, der vorübergehende heilsame Aufenthalt würde
ihn von seiner Sucht befreien. Wie sich herausstellen sollte, war es ein
Aufenthalt für den Rest seines Lebens.
Moon lauschte artig, der Schlafwandler machte
kurzen Prozess mit den noch vorhandenen Küchlein, und die Zeit flog in einem
Strom aus Anekdoten und Erinnerungen dahin. Es war wie in einer großen
Seifenblase, fand der Riese, weit weg von der übrigen Welt, und wenn er Miss
Gillman zuhörte, hatte er das Gefühl, als würde sich die Lebensgeschichte eines
Fremden plötzlich und ohne Vorwarnung seiner und Moons eigener aufprägen.
»Und dann gab es da natürlich noch den Jungen«,
sagte die alte Dame.
Moon blickte auf. »Erzählen Sie uns von ihm.«
»Er war ein Lehrjunge, ein Kind noch, nicht älter
als neun oder zehn. Er brachte dem alten Mann immer seine Medizin ins Haus.
Medizin
–
das war das Wort, das er stets benutzte. Eigentlich hat keiner von uns gern
laut ausgesprochen, worum es sich wirklich handelte.«
Moon drängte sie fortzufahren; er war merkwürdig
überzeugt von der Bedeutsamkeit der Geschichte.
»Als Botenjunge, so kam er das erste Mal zu uns.
Aber Coleridge schloss den kleinen Kerl bald ins Herz, er nahm ihn mit auf
seine Spaziergänge, las ihm Gedichte vor. Meine Familie besaß damals ein Haus
in Ramsgate, wo wir die Ferien verbrachten. Ich erinnere mich, dass er uns
sogar dort einmal besucht hat. Sie spielten am Strand. Das Verhältnis zu seinem
eigenen Sohn war immer schon angespannt gewesen, und so wurde Ned für den alten
Mann eine Art Ersatzsohn. Ned ist mein Erbe, sagte Mister Coleridge immer. Mein
Nachfolger.«
»Ned?«
»So hieß der Junge.«
»Und wie war sein Zuname?«
Miss Gillman trank ihren Tee aus. »Love«, sagte
sie. »Ned Love.«
Moon und der Schlafwandler starrten sie mit
offenem Mund an.
»Oh«, fragte sie, »sagt Ihnen der Name etwas?«
Kurz darauf, nachdem sie jeden weiteren
Nachschub an Tee, Kuchen und wehmütigen Erinnerungen höflich zurückgewiesen
hatten, verabschiedeten sich die beiden von Miss Gillman. Bevor sie gingen, gab
Moon ihr das Buch zurück.
»Ich glaube, das hier gehört Ihnen.«
»Sind Sie sicher? Es muss recht wertvoll sein.«
»Ich benötige es nicht mehr. Bitte nehmen Sie es.«
Sie zögerte.
»Bitte. Ich wäre sonst sehr beleidigt.«
Sie nahm es natürlich und ließ die beiden, Gott
befohlen, gehen.
Trotz seiner unzähligen Fehler war Moon
gelegentlich zu äußerst großmütigen Gesten fähig, die aus seiner schwarzen
Misanthropenseele hervorschimmerten wie Sonnenstrahlen aus einem bedeckten
Himmel.
Sie verließen Miss Gillmans Häuschen und gingen
die halbe Meile zum Friedhof von Highgate zu Fuß. Der Schlafwandler – der,
übersättigt von seinem Mehrfachfrühstück und den Desserts bei Miss Gillman,
nicht aufhören wollte zu gähnen – fragte wiederholt nach dem Zweck dieses
Friedhofsbesuchs, aber Moon verlor kein Wort, sondern legte eine strapaziöse
Marschgeschwindigkeit vor – ein Marathonläufer kurz vor dem Ziel, der so
schnell wie möglich das Rennen beenden wollte.
Sie kamen zur Kirche und wateten durch das hohe,
ungemähte Gras des Friedhofs, zwischen Reihen von Grabsteinen, Kreuzen und
Gedenktafeln hindurch, von denen viele krumm und schief dastanden, so als hätte
sich die Erde wütend geschüttelt und sie aus dem festen Untergrund gepresst.
Hier war die Stimmung nicht friedlich, es herrschte kein Gefühl der sanften
Ruhe, sondern eher der Vernachlässigung, der Bedrohung.
Moon und der Riese
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