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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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blieben vor einem
nichtssagenden Grab stehen. Die Inschrift auf dem Stein lautete:
    HIER RUHT SAMUEL TAYLOR COLERIDGE
1772 – 1834
Aus den Tiefen rufe ich zu Dir
    Der Schlafwandler beugte seltsam
ehrerbietig den Kopf, so als würde er, weil er so viel von dem Mann gehört
hatte, der zu ihren Füßen in der Erde lag, eine Andeutung von Trauer über
seinen Tod verspüren.
    Moon hingegen zeigte keine derartige
Gefühlsregung. »Sieh mal an!«, murmelte er, als er neben dem Stein kauerte und
sachte am Gras zog, das das Grab bedeckte. Der Rasen ließ sich in gleichmäßigen
Streifen abheben, und das Erdreich darunter sah frisch umgegraben aus.
    Zum dritten oder vierten Male in ebensovielen
Stunden war der Schlafwandler völlig verwirrt.
    WANDALEN?
    fragte er.
    »Nein. Zu planmäßig, zu akkurat.«
    Als der Riese daraufhin nachdenklich zu Boden
starrte, drängten sich ihm bestimmte schreckliche Möglichkeiten auf.
    Moon erhob sich. »Es ist schlimmer, als ich
vermutete. Wir sollten uns beeilen. Ich habe das dunkle Gefühl, dass uns nicht
genügend Zeit bleibt.«
    Sie entfernten sich vom Grab und vom Friedhof,
ließen die Toten ruhen und kehrten für den Augenblick in die Welt der Lebenden
zurück.
    Lieber Edward,
    Der nächste Bericht aus der Höhle des
Löwen.
    Mein zweiter Tag bei
Love, Love, Love und Love
ist fast
genauso verlaufen wie der erste. Acht Stunden langweilige Plackerei im Büro,
dazwischen eine magere halbe Stunde für den Mittagsimbiss, und der Abend in
diesem grässlichen gemeinschaftlichen Aufenthaltsraum im Kellergeschoss, wo ich
beten oder den Gedichtvorträgen meiner Kollegen lauschen durfte – und
widerwillig eine Runde Whist vervollständigte. Um dies hierzu schreiben, musste
ich mich heimlich in unser Zimmer davonstehlen. Meine Freundin – Love
893 – hatte sich für den Fall, dass nach mir gefragt würde, bereit
erklärt, etwas von einem Unwohlsein meinerseits zu erzählen. Außerdem habe ich
meine Grenzen, was das Ertragen der Frömmelei dieser Leute betrifft.
    Ich bin erstaunt, dass es Mister
Skimpole überhaupt gelungen ist, diese Anstellung für mich zu beschaffen. Alle
anderen arbeiten seit Monaten hier, manche seit Jahren. Als neuester Zuwachs
spüre ich deshalb wohl auch eine gewisse kühle Zurückhaltung mir gegenüber.
Bestimmt gibt es eine Menge für mich zu entdecken, aber keiner hier scheint
erpicht darauf mir etwas zu verraten. Selbst 893 wird plötzlich schweigsam und
verschlossen, wenn ich sie auf die verwickelten Finanzen von
Love
anspreche. Nicht, dass ich bisher
offene Neugier gezeigt hätte, das möchte ich betonen; wie versprochen, tue ich
mein Bestes, so harmlos wie möglich zu erscheinen, und ich bezweifle auch, dass
man mich als etwas anderes als eine unscheinbare Kanzleihilfskraft sieht.
Vielleicht war ich sogar zu wenig wissbegierig, vielleicht ist mein
offensichtlicher Mangel an Neugier selbst verdächtig. Vielleicht sollte ich ein
bisschen mehr herumschnüffeln.
    Heute sah ich Speight wieder, er
schritt mit flatternden Rockschößen wichtigtuerisch den Korridor entlang, einen
Schwarm Lakaien im Kielwasser. Seine Verwandlung ist so grundlegend, dass ich
annehme, Du würdest ihn kaum mehr erkennen, er scheint halbnackt ohne seine
Tafel. Ich frage mich, wie es diese Leute anstellten, eine so vollständige
Metamorphose zustandezubringen. Oder, besser gesagt,
warum
.
    Doch selbst er ist nicht der
absonderlichste unter den Angestellten von
Love
.
Heute Morgen erblickte ich etwas schlechterdings Beispielloses: eine Frau mit
Vollbart, die mit Büchern und Aktenordnern beschäftigt war und bei den anderen
weder vorwitzige Blicke noch irgendein halb unterdrücktes Glucksen hervorrief.
Normalerweise würde man sie eher in einem Zirkuszelt vermuten, aber hier wird
sie als eine von uns akzeptiert. Offenbar ist
Love
in all seiner Verschrobenheit eine recht weitherzige Gemeinschaft, denn obwohl
diese Frau ein verhältnismäßig neuer Zugang ist (Love 986, glaube ich), scheint
sie bereits in hohem Ansehen zu stehen – ein aufgehender Stern, in den
große Erwartungen gesetzt werden.
    Und jetzt zu meinen Neuigkeiten. Gegen
Ende meiner Schicht trat mein unmittelbarer Vorgesetzter, ein pausbäckiger
Glatzkopf namens Love 487, an mich heran und erklärte mir nach einigem
belanglosem Geplauder, dass ich dazu auserwählt sei, den Präsidenten des
Verwaltungsrats persönlich kennenzulernen. Anscheinend wird dies als große Ehre
betrachtet, und beim Abendbrot war ich daher Gegenstand

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