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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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nehmen, aber etliche fuhren an ihnen vorbei, obwohl sie leer waren;
offenbar wollten sie auf so bedenklich aussehende Fahrgäste lieber verzichten,
und so verging eine ganze Weile, ehe eine anhielt.
    »Wo fahren wir hin?«, fragte der Junge, als sie
sich mühsam auf das Trittbrett kämpften.
    »Zu einem ganz besonderen Ort. Er liegt unter der
Erde.«
    »Und wie heißt er?«
    »Ich würde gegen die Vorschriften verstoßen, wenn
ich es dir sage.«
    »Oh.« Der Junge machte ein enttäuschtes Gesicht,
aber selbst in seinem zarten Alter kannte er bereits das Gebot der Verschwiegenheit.
    Skimpole zauste ihm liebevoll das Haar und
beschloss einzulenken. Die Zeit für Geheimnisse war vorbei.
    »Das ›Archiv‹«, flüsterte er. »Der Ort heißt
›Archiv‹.«
    Mister Cribb blickte Edward Moon über
den Kaffeehaustisch hinweg an. »Wie schön, Sie zu sehen«, sagte er. »Beim
letzten Mal, als wir uns trafen, waren Sie nicht so freundlich.«
    »Wir müssen uns kurz fassen. Der Schlafwandler
weiß nicht, dass ich hier bin.«
    »Hätte er etwas dagegen?«
    »Irgendwie sind Sie für ihn … es klingt
lächerlich … wie ein rotes Tuch.«
    »Tatsächlich? Und haben Sie eine Vermutung,
weshalb?«, fragte Cribb.
    »Absolut keine.«
    »Nun ja.«
    »Also: Sie schleppen mich durch halb London, Sie
reizen mich mit Andeutungen und Fingerzeigen; es scheint Ihnen Freude zu
machen, unangekündigt in meinem Leben aufzutauchen und mich mit Splittern der
Wahrheit zu locken. Weshalb? Zu welchem Zweck? Dieser Spaziergang zu den
Docklands – ich bin sicher, Sie haben mich mit voller Absicht zu Lud
geführt!«
    »Habe ich das?« Cribb wirkte ehrlich verblüfft. Er
kratzte sich an der linken Hand, die, wie Moon bemerkte, bandagiert war, als
hätte er sich vor kurzem daran verletzt. »Sie meinen wohl eher, ich werde. Sie
scheinen zu vergessen, dass Ihre Vergangenheit meine Zukunft ist.« Er grinste.
»Und umgekehrt.«
    »Was war das damals? Ein Ulk? Lachen Sie über
mich?«
    »Hm. Ich habe keine Ahnung. Sie hätten mich damals
fragen sollen.«
    »Ich habe das Gefühl, als würde ich in die
Dunkelheit sausen, und es sind Sie, der mich hineingestoßen hat.«
    »Na, na. Dafür ist doch wirklich kein Grund!«
    Moon schnaubte unwirsch, und endlich, endlich war
Cribb bereit, ein wenig Licht in die Sache zu bringen.
    »Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht schulde
ich Ihnen wirklich eine Erklärung.« Er seufzte. »Ich habe die Zukunft gesehen,
Edward. Nicht indem ich dorthin gereist wäre, sondern indem ich dort lebte.
Verzeihen Sie mir, ich weiß nicht recht, wie ich diese Vorgänge in Worte
kleiden könnte, sodass sie einen Sinn für Sie ergeben … Betrachten Sie es
so: Der Ablauf der Zeit ist für Sie einfach und klar – vorhersehbar und
jeden Tag frisch erblüht. Auf Montag folgt Dienstag, auf Dienstag folgt
Mittwoch. Nicht jedoch für mich. Ich durchwandere mein Leben rückwärts. Ich
erwache am Mittwochmorgen, und der Tag davor war Donnerstag. Mein Leben ist ein
ewiges Davongleiten, ein ständiges Verlieren von Berührungspunkten. Aus Ihrer
Perspektive werden wir uns noch zweimal treffen. Nächstes Mal werde ich nicht
ich selbst sein, und danach werde ich Sie kaum wiedererkennen. Ich werde mich
verabschieden an dem Tag, an dem wir uns kennenlernten.«
    »Lächerlich.«
    »Sie wissen, dass es so ist.«
    »Dann wissen Sie, was mit uns geschehen wird? Mit
dem Schlafwandler und mit mir und mit der ganzen Stadt?«
    »Ich weiß es, darf es aber nicht sagen.«
    »Und warum nicht?«
    »Es gibt Regeln, die ich nicht brechen kann«,
erklärte Cribb. »Meine Stellung ist eine privilegierte, und obwohl ich große
Achtung vor Ihnen und Ihren Methoden habe, werde ich sie nicht in Gefahr
bringen.«
    »Sprechen Sie eigentlich je offen und ohne
Umschweife?«
    »Ob Sie es glauben oder nicht, ich drücke mich nie
mit Absicht nebulös oder zweideutig aus. Ich habe stets mein Bestes für Sie
getan.«
    »Hatte die Innocenti recht?«, wechselte Moon das
Thema. »Wenn ja, dann bleiben uns nur noch zwei Tage.«
    »Also gut, vielleicht sollten wir uns die Vorwürfe
für eine andere Gelegenheit aufheben. Warum sollte ich herkommen?«
    »Ich brauche Ihre Hilfe.«
    »Das habe ich mir schon gedacht.«
    »Es gibt einen Mann, den ich finden muss –
das letzte Glied in der Kette, die ich geschmiedet habe.«
    »Sein Name?«, fragte Cribb, aber es klang so, als
wüsste er die Antwort bereits.
    »Love.« Moon fasste sein Gegenüber ins Auge, um
nach Anzeichen zu forschen,

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