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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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noch auf, und ein
sehr alter Mann wagte sich auf die Schwelle. Sein Gesicht war faltig und voller
Runzeln wie ein verschrumpelter Apfel; er trug einen betagten braunen Anzug, an
dem unverwechselbare Spuren darauf hinwiesen, dass häufig darin geschlafen
wurde, und hielt eine halbleere Flasche einer gefährlich billigen Whiskymarke
in der Hand. »Mein Name ist Love«, sagte er nicht ohne Würde. »Aber Sie dürfen
mich Ned nennen.«
    Sie folgten ihm ins Haus hinein, und er führte sie
über die Diele, die nach Schimmel und Tierhaaren roch, in einen Raum, der
irgendwann einmal ein recht ansehnliches Wohnzimmer gewesen sein musste. Hatte
je eine Gasleitung ins Haus existiert, so war sie wohl seit langem
unterbrochen, denn nun wurde das Zimmer von etwa einem Dutzend Kerzen erhellt,
die lustlos im Halbdunkel flackerten und ihr Wachs auf den Boden tropften. Ein
kleiner Ofen stand in der Mitte des Zimmers, an einer Wand häuften sich
Unmengen von zusammengeschobenen Decken, und die verdorbenen Überreste etlicher
Mahlzeiten lagen verstreut auf dem Boden herum.
Muss Ungeziefer geradezu
magnetisch anziehen
, dachte der Schlafwandler (dessen Sinn für Sauberkeit
und Hygiene nach Jahren gewissenhaftester Haushaltsführung durch Mrs Grossmith
aufs Äußerste geschärft war).
    »Bitte nehmen Sie Platz, meine Herren.« Love
wieselte um die Besucher herum und flitzte dabei mit einer Behendigkeit über
die verstreuten Abfälle, die sein fortgeschrittenes Alter Lügen straften. »Darf
ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
    »Das, was Sie auch nehmen«, sagte Moon.
    Von irgendwoher holte Love ein schmieriges Glas
hervor und goss ein Schlückchen Whisky hinein. »Und Ihr Freund?«
    MILCH
    »Milch?« Der Alte staunte. »Lieber
Himmel, was für ein ausgefallener Wunsch! Nun, es soll nicht heißen, dass Ned
Love nicht alles für seine Besucher tut. Ob sie nun eingeladen sind oder
nicht.« Nachdem er eine Weile unter seinen Decken und Kissen gewühlt und dabei
ganze Wolken von Staub und Federn hochgeschleudert hatte, zauberte er eine
schmutzige Milchflasche hervor, die noch etwa zu einem Viertel mit einer
graugrünen Flüssigkeit gefüllt war. Er reichte sie dem Schlafwandler. »Können
Sie gerne haben«, sagte er skeptisch, »aber für die Qualität kann ich mich
nicht verbürgen.«
    Der Hüne ergriff die Flasche, schnüffelte mit kaum
verhohlenem Ekel daran und stellte sie daraufhin diskret zur Seite.
    »Also, meine Herren«, begann Love, als alle Platz
genommen hatten, »was kann ich für Sie tun? Ich hätte Sie zwar nicht einlassen
dürfen, aber Sie schienen so erpicht darauf, mit mir zu reden. Soll ich mich
geschmeichelt fühlen? Wissen Sie, schon die Tatsache, dass Sie mich überhaupt
gefunden haben, spricht Bände für Ihre Hartnäckigkeit.«
    »Warum leben Sie in solchen Verhältnissen?«,
erkundigte sich Moon.
    »Ich weiß, Sie finden das bestimmt unbegreiflich.
Ich finde das manchmal auch, wenn ich morgens von dem einen oder anderen
kleinen Tier geweckt werde, das an meinem Zeh knabbert und sich am
Nagelhäutchen zu schaffen macht, als wär’s ein Frühstücksei. Ned, sage ich mir
dann, Ned, alter Junge, warum lebst du eigentlich so? Lieber Himmel, das ist ja
unwürdig! Du hast dir doch so viel mehr vorgenommen!«
    Moon hob eine Augenbraue. »Ganz recht.«
    »Wissen Sie, nachdem man mich ausgeschlossen hat,
war es immer meine Absicht, mich gänzlich von der Welt abzuschirmen. Mir kam
die Idee, Eremit zu werden, und zwar hier mitten in der Stadt. Ein Einsiedler
nach alter Gepflogenheit. Ich beschloss, der materialistischen Welt zugunsten
eines Lebens frommer Betrachtung abzuschwören, denn ich hatte die ewige
Wahrheit entdeckt, dass man nicht Gott und dem Mammon zugleich dienen kann. Ich
hatte gehofft, nie wieder zu einer Menschenseele sprechen zu müssen oder sie
auch nur zu Gesicht zu bekommen, aber ich habe die Sache wohl nicht sorgfältig
genug durchdacht. Ich muss ja doch häufige Abstecher nach draußen machen –
für Lebensmittel, Sie verstehen. Also nur für das absolut Notwendige! Ich
gehöre nicht zu dieser Art von Einsiedlern, die jedes Mal, wenn ihnen nach
frischem Brot ist, hinausstürmen in die weite Welt! Ganz gewiss nicht. Nein,
nein, ich bin sehr streng mit mir, gebe mir Mühe, meine Beutezüge auf einmal
pro Woche zu beschränken. Wie auch immer: es bedeutet, dass ich ganz und gar
kein musterhafter Eremit bin. Und das ist bei weitem nicht meine einzige Sünde.
Ich bekomme auch Besuch. Von Männern wie Ihnen.

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