Das Albtraumreich des Edward Moon
weg? Ich
fühle mich zusehends wie die unbedarfte Heldin eines Groschenromans, die
blauäugig ins Verderben rennt.
Jetzt muss ich aufhören. Das
Alleinsein hat ein Ende, ich höre meine Wärterin kommen.
C.
SECHZEHN
Kein lebender Mensch kannte die Stadt
besser als Thomas Cribb. Wie ein langjähriger treuer Liebhaber war ihm jede
ihrer Rundungen und Spalten, jede Öffnung, jeder Winkel bekannt – all die
intimen Plätzchen ihres Leibes; er war Hüter ihres geheimen, verborgenen
Bereichs. Und so war Cribb imstande, innerhalb weniger Stunden jede Person in
London aufzuspüren – vom einfachsten Straßenkehrer bis zum höchsten
Aristokraten, ganz gleich, wie spurlos verschwunden sie sich auch glaubten. Er
durfte sich rühmen, bei zahlreichen Gelegenheiten die Polizei in genau dieser
Hinsicht unterstützt und so Dutzende gesuchte Verbrecher vor den Richter
gebracht zu haben – Kriminelle, die sich in eitler Selbstüberschätzung für
alle Zeiten unauffindbar gewähnt hatten.
Aber mit Ned Love war es eine andere Sache. Fast
schien es, als würde die Stadt selbst ihn verstecken. Noch nie zuvor hatte sich
jemand als so schwer fassbar erwiesen – nicht einmal in jener fernen
Zukunft, wenn (so versicherte mir Cribb) die Stadt noch dichter bevölkert sein
würde als heute.
Folglich war es tags darauf schon spät am
Nachmittag, als Moon und der Schlafwandler von dem hässlichen Mann Nachricht
erhielten, und die Dämmerung war längst hereingebrochen, als sie endlich auf
der Schwelle des Heims ihrer Jagdbeute standen.
Ned Love lebte in einem ärmlichen, schäbigen
Viertel, und sein Haus mit den vernagelten Fenstern und der verriegelten Tür
machte den Eindruck völliger Verlassenheit – was so weit ging, dass der
Schlafwandler ärgerlich die Vermutung kritzelte, Cribb könnte sie an der Nase
herumgeführt und aus reiner Bosheit auf diese vergebliche Expedition geschickt
haben.
Moon ignorierte diese Unterstellung und klopfte,
so fest es ging. »Mister Love!«
Der Riese blickte sorgfältig in alle Richtungen,
um sicherzugehen, dass man sie nicht beobachtete. In einer Gegend wie dieser
war es gewiss nicht ratsam, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Gerade wollte Moon wieder rufen, als sich die
Klappe des Briefeinwurfs knarrend öffnete. Misstrauische Augen guckten heraus.
»Gehen Sie weg!«, krächzte eine Stimme.
»Mister Love?«
»Wer will das wissen?«
»Mein Name ist Edward Moon. Dies ist mein Partner,
der Schlafwandler.«
»Brauche keine Besuche. Hab keine Zeit für Gäste.«
Moon sah das Haus an: baufällig und mit
geschlossenen Fensterläden, als würde es nur auf seinen Abbruch warten. Es
erstaunte selbst ihn (dem eine unkonventionelle Unterkunft keineswegs fremd
war), dass irgendjemand ernsthaft daran denken könnte, hier zu wohnen.
»Wir müssen mit Ihnen sprechen«, erklärte Moon
eindringlich. »Es könnte um viele Menschenleben gehen.«
»Machen Sie, dass Sie wegkommen. Sie können nicht
rein. Ich mache nicht auf.«
»Ich habe … ein paar Fragen. Betreffend den
Dichter.«
»Dichter? Ich kenne keinen Dichter.«
»Sie kannten ihn, als Sie ein kleiner Junge
waren«, gab Moon barsch zurück; seine Geduld erschöpfte sich zusehends. »Ich
habe keine Zeit für Spielchen. Wenn meine Quellen zuverlässig sind, dann
bleiben uns nur etwas mehr als vierundzwanzig Stunden, bevor es zum Angriff auf
die Stadt kommt.«
»Dann ist es also soweit?« Er murmelte noch etwas,
aber zu leise, um von den beiden vor der Tür gehört zu werden. Dann fügte er
hinzu: »Das habe ich schon befürchtet.«
Moon bückte sich, um durch den Briefeinwurf zu
sprechen. »Hören Sie, Mister Love, das ist nicht die angenehmste Art, diese
Unterhaltung zu führen. Bitte lassen Sie uns ein. Wir brauchen Ihre Hilfe.«
»Warten Sie.« Die Augen verschwanden, der
Einwurfschlitz wurde zugeklappt, und das darauffolgende Knarren und Rasseln
verriet das Öffnen zahlloser Schlösser, Ketten und Riegel. All dies dauerte
weit länger als erwartet – selbst Barabbas war in den Mauern von Newgate
nicht so sicher verwahrt gewesen wie Ned Love in seinem Heim. Im Fall eines
Feuers hätte es keine Rettung für ihn gegeben, denn noch vor dem Öffnen seiner
eigenen Haustür wäre er längst darin umgekommen. Moon machte sich eine geistige
Vormerkung, Skimpole nichts von diesem Umstand zu erzählen, denn in Anbetracht
der Vorliebe des Mannes für Brandstiftung mochte es ihn auf hässliche Ideen
bringen …
Zu guter Letzt ging die Tür doch
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