Das Albtraumreich des Edward Moon
»Irgendjemand da?«
Nichts geschah. Er kam sich töricht vor und
schwieg.
Halb betäubt, wie er war, von Schmerzen, Kälte und
der Fahrt in irgendeiner rumpelnden Kutsche, fiel ihm erst jetzt auf, dass er
aufrecht saß – irgendwie an einem Stuhl befestigt. Probeweise versuchte
er, ein Bein zu bewegen.
Damit hatte er natürlich kein Glück, denn er war
fest verschnürt; seine Hände waren an die Armlehnen des Stuhls gefesselt, und
das Seil schnitt so tief in seine Handgelenke ein, dass er bereits das Gefühl
in den Fingern verlor. Offenbar wurde er gefangengehalten – ein Umstand,
der ihn keineswegs überraschte, denn im Laufe seines langen, langen Daseins
hatte er sich unzählige Feinde geschaffen. Ein Gefühl der Gewichtslosigkeit
überkam ihn, ein Gefühl der Benommenheit und des Schwebens, so als hätte er
sein Leben abgeworfen und blickte aus großer Höhe darauf hinab.
Er hörte ein donnerndes Rumpeln, fast schmerzhaft
laut, das ganz aus der Nähe kam. Ein Zug? Er war nicht sicher.
Plötzlich spürte er die Anwesenheit einer anderen
Person. Ein Streichholz flammte vor seinem Gesicht auf, eine Lampe wurde
angezündet, und jetzt erblickte er auch das schreckliche Ausmaß seiner Zelle.
Er fragte sich, ob er nicht der Finsternis den Vorzug gegeben hätte.
Das Gesicht einer Frau – irgendwie bekannt,
aber ärgerlicherweise ohne einen dazugehörigen Namen – erschien vor seinen
Augen. »Mister Cribb«, sagte sie, »willkommen im Sommerkönigreich.«
Er schaffte es, seinem schwachen Murmeln einen
aufbegehrenden Unterton zu geben: »Was wollt ihr von mir?«
»Wir wollen Ihnen helfen«, sagte die Frau mit
leiernder, ausdrucksloser Stimme. »Wir wollen Ihnen
Love
zeigen.«
Jetzt fiel es Cribb ein! »Sie sind Charlotte
Moon!«
Das Gesicht zeigte ein engelhaftes Lächeln. »Sie
müssen sich irren«, sagte sie in demselben eintönigen Singsang. »Mein Name ist
Love
.«
Und da hörte Cribb seinen eigenen Schrei; es
sollte der erste von vielen sein, in dieser unendlich langen Nacht.
Hawker und Boon – gemeinhin die
»Präfekten« genannt – verbreiteten seit langem Grauen in der ganzen Stadt:
unerbittliche, unbarmherzige Todbringer für jeden, der so dumm oder
unvorsichtig war, ihren Weg zu kreuzen. Noch nie hatte sich jemand ihrem Zorn
ausgesetzt und es überlebt. Selbst Gesetzesbrecher – die schlimmsten,
brutalsten und unverbesserlichsten, die London zu bieten hatte – lebten in
Angst und Schrecken vor diesen zwei Männern. Das leiseste Gemunkel über ein
mögliches Auftauchen der beiden ließ die gesamte Verbrecherwelt erbeben.
Ich sollte hinzufügen, dass sich ihre traurige
Berühmtheit keineswegs auf London beschränkte. Von Baba Abu, dem berüchtigtsten
Bombayer Meuchelmörder des vergangenen Jahrhunderts, wurde erzählt, er hätte
sich dereinst bei der bloßen Erwähnung ihrer Namen ausgiebig auf seinen
Mittagstisch übergeben.
Es waren also zwei lebende Legenden, denen Mister
Skimpole auf dem Spielplatz der Gammage-Knabenschule gegenüberstand. Recht
betrachtet hätte ihr Erscheinungsbild komisch wirken müssen, und es hätte dem
Albino eigentlich äußerst schwerfallen sollen, bei ihrem Anblick ernst zu
bleiben; doch es war alles andere als Heiterkeit, was von einer Begegnung mit
diesen beiden kuriosen Kind-Männern hervorgerufen wurde, sondern das genaue
Gegenteil. Irgendetwas Unbeschreibliches an den beiden
stimmte einfach
nicht
. Sie schienen ein wenig außerhalb der Realität zu existieren –
schienen zwei, drei Fingerbreit über der körperhaften Welt zu schweben.
Boon lächelte Skimpole zu wie der Bauer dem
Truthahn, eine Woche vor Weihnachten. »Mord, Sir? Na sowas! Jux und Allotria!«
Hawker gluckste in fröhlicher Zustimmung.
»Fabelhaft!«
Im Laufe ihrer langen und höchst erfolgreichen
Karriere waren die Präfekten immer wieder auf Männer und Frauen getroffen, die
es für angebracht hielten, über ihre Sprechweise zu lachen – sich lustig
zu machen über ihr unverwechselbares Spielplatzvokabular, ihr Markenzeichen.
Überflüssig zu erwähnen, dass wenige dieser Spaßvögel Gelegenheit bekommen
hatten, danach noch einmal zu lachen. Sabbern, ja. Ein schwaches Stöhnen
vielleicht. Und blinzeln – einmal für ja, zweimal für nein – ohne
Zweifel. Aber lachen? Nie wieder.
Mister Skimpole fühlte sich weit entfernt davon,
auch nur die Mundwinkel zu verziehen. Seine Kleider waren schweißnass, und die
wunden Stellen an seinem Körper nässten und juckten abscheulich.
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