Das Albtraumreich des Edward Moon
könnten. Je eher wir hier wieder rauskommen, desto
besser, falls es Ihnen nichts ausmacht.«
»Wir sind bereit.«
Clemence geleitete sie vom Monument weg zu der im
Dunkeln liegenden Treppe, die zur King-William-Street-Station der
Untergrundbahn führte. Ein Metallgitter, das mit einem Vorhängeschloss
gesichert war, versperrte den Zugang. Clemence holte einen Schlüssel aus der
Tasche, öffnete das Schloss und zog das Gitter zurück. Es ächzte und jaulte
dabei, und so standen sie alle eine Minute lang still und schwiegen, um zu
sehen, ob das Geräusch irgendwo Interesse geweckt hatte. Nein, nichts.
Sie befanden sich im Finanzdistrikt der Stadt, der
nachts, nachdem die Bankleute, Börsenmakler und übrigen Mammonsdiener längst
nach Hause zu ihrem gedeckten Tisch und einem geruhsamen Abend vor dem Kamin
geeilt waren, stets völlig menschenleer war. Außerdem fand all dies an einem
Sonntag statt, wenn selbst die hingebungsvollsten Geldraffer bei Frau und
Kindern blieben – oder (in zumindest zwei Dutzend Fällen, von denen ich
persönlich Kenntnis habe) bei Mätresse oder Geliebter.
Zum letzten Mal war Moon anlässlich seines
Spaziergangs mit Cribb hier gewesen, welcher in einem unaufhörlichen Redefluss
wunderliche Anekdoten zum besten gegeben hatte und sich in wilden Spekulationen
über die Geschichte Londons ergangen war – von dem großen Stein in der
Kirche erzählt und die kuriosesten Ansichten über die Höhe des Monuments,
verglichen mit jener der Nelsonsäule, zur Debatte gestellt hatte. Aber jetzt,
um Mitternacht, war diese Gegend eine Geisterstadt, fast nicht
wiederzuerkennen, wäre da nicht die gewaltige Nadel des Monuments gewesen, die
wie ein längst verlandeter Leuchtturm schweigend Wache hielt.
Clemence reichte dem Schlafwandler eine der beiden
Laternen. »Folgen Sie mir.«
Die drei Männer prüften ein letztes Mal, ob sie
immer noch unbeobachtet waren, und traten durch den Zugang in die Finsternis,
die Treppe hinab, vorbei am Fahrkartenschalter auf den verlassenen Bahnsteig.
Einen Augenblick lang bildete sich der
Schlafwandler ein, das vertraute Stampfen, Rattern und Pfeifen einer Lokomotive
zu hören, aber als er genauer hinhorchte, war kein Geräusch zu vernehmen.
Clemence bedeutete den beiden, ihm zu folgen. »Es
ist nicht weit.« Er sprang vom Bahnsteig hinunter auf die Geleise.
»Und Sie sind ganz sicher, dass hier keine Züge
mehr verkehren?«
»Mitten in der Nacht?«
Moon seufzte. »Wir legen unser Schicksal in Ihre
Hände, Mister Clemence.«
Der ehemalige Bahnbedienstete marschierte los. Sie
ließen die vergleichsweise Sicherheit des Perrons hinter sich und folgten ihm
in den Tunnel in einen Teil dieses geheimnisvollen Labyrinths unter der Stadt,
das von ihren Einwohnern nur als einfärbig-dunkles Gewirbel wahrgenommen wurde,
durch das die Reise früher oder später zurück ans Licht ging.
Mit einemmal verspürte Moon das Bedürfnis, die
unheimliche Stille zu unterbrechen. »Mister Clemence? Sind Sie ein
abergläubischer Mensch?«
»Kann ich eigentlich nicht sagen. Bin eher von der
sachlich denkenden Sorte. Vernunftmensch, sozusagen.«
»Dann glauben Sie also auch nicht an
Wahrsagerinnen? Hellseherinnen?«
»Hab noch nie darüber nachgedacht. Warum fragen
Sie?«
»Ich kannte eine.«
»Ach ja?«
»Und wenn sie recht hatte, dann ist heute der Tag,
an dem die Stadt untergehen wird.«
»Ah, die hat sich sicher bloß alles aus den
Fingern gesogen. Das tun doch die meisten von denen, denk ich.«
»Vielleicht.«
Sie folgten dem Schienenstrang nach Moons
Schätzung etwa eine halbe Meile, immerzu an Ruß und Schmutz entlang, der die
Wände verkrustete wie schwarzer Belag faulende Zähne. Der Schlafwandler hatte
das untrügliche Gefühl, dass sie beobachtet wurden: Er konnte das Huschen und
Scharren der kleinen Lebewesen hören, die hier zu Hause waren.
Clemence blieb plötzlich stehen; die Gleise
gabelten sich. »Wir sind etwa auf halbem Wege zwischen den Stationen. Hier
arbeiteten die Männer, als es losging mit dem Verdruss.« Er zeigte nach vorn.
»Diese Strecke führt zur nächsten Station. Aber die hier«, er zeigte auf den
Schienenstrang, der nach links in einen engen Stollen führte, »wurde
fallengelassen.« Er ging weiter; das Licht der Laterne hatte hart anzukämpfen
gegen die Finsternis, die hier unten ganz besonders undurchdringlich wirkte.
Wenige Minuten nach dem Verlassen der Hauptlinie
verlor sich der Schienenstrang im Untergrund. »Sie hatten es eilig mit
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