Das Albtraumreich des Edward Moon
der Nervosität; ein fast greifbares Gefühl von Bedrohung lag in der
Luft. Der Zwischenfall mit Slattery hatte alle erschüttert – und die
Aussage Grischenkos noch mehr. Dedlock hatte alle »Chinesen« entfernt, um sie
nach dem Mackenzie-Cooper-Debakel eingehend auf Herz und Nieren prüfen zu
lassen.
Skimpole hatte sich für den Rest des Tages nach
Hause verzogen, trübsinniger und beängstigender aussehend als je zuvor. Mit dem
Albino war ganz offensichtlich etwas nicht in Ordnung, aber Dedlock war es in
all den Jahren, die sie sich nun bereits kannten, schon immer schwergefallen,
Mitgefühl für den Mann aufzubringen; die ewig überreizte Unruhe seines
andauernd kränklichen Kollegen widerte ihn an.
Er bog von der Pall Mall in eine schmale Gasse ein
und blieb bald vor einem Haus stehen. Ein Bronzeschild war neben der Türglocke
angebracht, auf dem in klaren schwarzen, schmucklosen Lettern stand:
KLUB DER ÜBERLEBENDEN NUR FÜR MITGLIEDER
Dedlock klingelte, und von drinnen
näherten sich humpelnde Schritte. Ein vom Alter gebeugter, verschrumpelter Mann
öffnete die Tür; seine gewaltigen weißen Augenbrauen sahen aus wie stachlige
Kaulquappen, die zu ihrer zehnfachen Normalgröße angewachsen waren, und hingen
bedenklich tief herab, wobei sie seltsame Schatten über sein Gesicht warfen. Er
erkannte Dedlock auf den ersten Blick. »Wie schön, dass Sie uns wieder
besuchen, Sir. Bitte treten Sie ein!«
Der vertraute Geruch umfing Dedlock gleich nach
den ersten Schritten ins Innere des Hauses – ein unbestimmtes, wohltuendes
Gemisch aus Whisky, Portwein, kaltem Tabakrauch, staubigen Teppichen und
männlicher Ausdünstung.
»Es ist heute recht ruhig, Sir«, sagte der Mann
mit den buschigen Brauen entschuldigend, als er Dedlocks Mantel übernahm. »Sie
sind noch ein wenig früh dran.«
»Nicht schlimm. Ich gehe gleich durch.«
»Wie Sie wünschen, Sir.«
Dedlock spazierte über einen langen Gang in den
letzten von vier offenen Räumen. »Abend!«, sagte er als Gruß an die
Allgemeinheit, worauf ihm ein Chor aus Brummen und Murmeln antwortete; er stammte
von dem halben Dutzend anwesenden Herren im Salon, die sich an ihren
Zigaretten, Zigarren oder Pfeifen festhielten.
Dedlock ließ sich in seinem gewohnten Lehnsessel
neben der Tür nieder. Ihm gegenüber, versunken hinter der
Gazette
, saß
ein schlanker, großer Mann, gekleidet in einen Anzug und eigentlich völlig
unscheinbar, wäre da nicht der Umstand gewesen, dass ihm beide Beine fehlten
und der unterste Teil seines Torsos nur mehr ein schlaffer Stumpf war, der
kraftlos über die Kante des Stuhls hing.
Zu seiner Rechten saß ein Mann, so grässlich
entstellt, dass die meisten von uns bei seinem Anblick aufgeschrien oder kurz
vor einer Ohnmacht gestanden hätten. Dedlock hingegen nickte ihm mit der
gleichen unbefangenen Höflichkeit zu, die er auch jedem anderen, leichter als
menschliches Wesen erkennbaren Bekannten entgegengebracht hätte – einem
Freund, dem er auf der Straße begegnete, oder einem Arbeitskollegen an der
Theke. Der Mann war ganz offensichtlich irgendwann das Opfer eines
schrecklichen Feuers geworden; sein Gesicht war zur Hälfte verwüstet, die
Kopfhaut und damit sein Haar zur Gänze verbrannt, die Haut bläulichrot
verfärbt. Zweifellos, dachte Dedlock, war der arme Kerl in der Welt da draußen
ein Objekt des Mitleids, aber ebenso zweifellos wurde er von den Kindern
verspottet, wenn er seinen täglichen Verrichtungen nachging, wurde angestarrt
und ausgelacht, und man zeigte mit dem Finger auf ihn. Es hätte Dedlock
keineswegs überrascht zu erfahren, dass selbst Marktweiber nicht vor
lautstarken Zweifeln an seiner Manneskraft zurückschreckten, sobald er auch nur
den Hut zum Gruße hob. Aber hier, in diesem exklusivsten aller Klubs der Stadt,
hier konnte dieser Mensch sich ohne Scheu und hocherhobenen Kopfes unter
seinesgleichen entspannen. Und heute schien er eindeutig fröhlich gestimmt, wie
er so seine uralte Bruyèrepfeife hielt und begeistert drauflospaffte.
Ein paar Schritt weiter saß ein Mann mit
Augenklappe und einem schartigen roten Loch dort, wo eigentlich seine Nase
hingehört hätte; seinem Nachbarn fehlte ein halber Arm, und er neigte zu
krampfhaften Anfällen von heftigem Zittern und Beben. Direkt hinter den beiden
fiel Dedlocks Blick auf einen knochigen Kerl, dessen Gesicht aussah wie das
eines Hundes oder Dachses nach einer ganz besonders blutigen Rauferei.
Dedlock rutschte in seinem Lehnsessel hin und her;
er
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