Das Albtraumreich des Edward Moon
Coleridge
auch.«
»Coleridge?«
»Barabbas gab mir eine Ausgabe seiner
Lyrischen
Balladen
. Diese Kirche – falls es sich überhaupt um eine solche
handelt – scheint sich um seine Vorstellungswelt zu drehen.«
Charlotte seufzte. »Edward«, sagte sie in einem
Ton, in dem man zu einem geliebten alten Verwandten spricht, der, obwohl einst
von wachem und scharfem Verstand, längst in umnebelter Senilität versunken ist.
»Du darfst kein Wort von dem glauben, was dieser Mensch dir erzählt! Nicht von
ungefähr nennt ihn die Presse den ›Unhold‹.«
Moon wurde aschfahl und sagte nichts darauf;
Charlotte war froh über die Ablenkung, als ein Mädchen die Getränke brachte,
die Gläser vor sie beide hinknallte und sich schwerfällig wieder trollte.
»Du hast erwähnt, dass du einen Gefallen von mir
erwartest«, sagte sie, nachdem Moon einen stärkenden Schluck genommen hatte.
»Ich habe die Nacht im Archiv verbracht.«
»Du verbringst dein halbes Leben dort.«
»Die Kirche des Sommerkönigreichs ist eine der
reichsten Organisationen in London.«
Charlotte schürzte die Lippen. »Ist das sicher?«
»Keine Frage. Die Leute dort verheimlichen das
gut. Ich musste mich durch Berge von Papieren wühlen, aber ich bin auf eine
Fährte gestoßen. Es brauchte nur jemanden, der hartnäckig genug war, um sie bis
zu ihrem Ursprung zu verfolgen.«
»Und was hast du herausgefunden?«
»Dass die Kirche fast gänzlich von einer einzigen
Gruppe finanziert wird. Einer Vereinigung namens …
Love
.«
»Love?« wiederholte Charlotte ungläubig.
»Bankiers und Makler. Allerlei Leute mit viel
Geld. Schwerreich und mit großem Einfluss in der Stadt. Der ganze Name dieser
Gruppe ist, du wirst es nicht glauben,
Love, Love, Love und Love
.«
»Klingt wie ein Scherz.«
Moon lächelte nicht. »Der Schlafwandler und ich
haben ihr Büro besucht. Er kannte das Gebäude, sagte, er habe Speight –
ausgerechnet Speight! – hineingehen sehen, bekleidet mit einem noblen
Anzug und in einer Haltung, als würde ihm das ganze Haus gehören.«
Charlotte lachte auf. »Er wird sich geirrt haben.
Oder er war betrunken; eigentlich macht er den Eindruck, als wäre das durchaus
denkbar.«
»Der Schlafwandler ist bei Weitem der
vernünftigste und besonnenste Mensch, den ich kenne. Außerdem habe ich ihn noch
nie etwas anderes als Milch trinken sehen.«
»Das Rätsel wird immer undurchdringlicher«,
bemerkte sie. »Du musst entzückt sein.«
»Aber siehst du nicht auch, dass hier irgendetwas
im Gange ist?«
Charlotte leerte ihr Glas und sprach wieder,
diesmal ruhig und beherrscht. »Ich stimme dir zu. Das alles ist verdächtig.
Aber wie kann ich da helfen?«
»Ich habe dir eine Anstellung bei
Love
besorgt.«
»Ganz schön dreist von dir.«
»Verzeih mir. Aber die Zeit drängt.«
»Wie ist dir das gelungen?«
»Skimpole. Das Direktorium hat seine nützliche
Seite.«
Charlotte seufzte. »Und was soll ich also tun?«
»Du sollst dich bei
Love
einnisten und
herausfinden, welche Verbindung zur Kirche besteht, was sie im Schilde führen.«
»Eine Aufgabe, die ja praktisch
keinerlei
Anforderungen stellt!«
»Du musst mir über alles Bericht erstatten, ganz
gleichgültig, wie unwesentlich oder nicht zur Sache gehörig es dir erscheint!
Bitte, sei gewissenhaft, ich verlasse mich auf dich!«
»Und was hast du vor, während ich mit all dem
beschäftigt bin?«
»Der Schlafwandler und ich müssen einer anderen
Spur folgen, aber sei versichert, ich passe auf dich auf.« Moon fischte eine
Geschäftskarte aus seiner Jackentasche. »Hier ist die Adresse. Sei vorsichtig.
Ich hoffe bei Gott, dass ich dich damit nicht in Gefahr bringe.«
»Gefahr? Was erwartest du denn?«
»Falls Madame Innocenti recht hatte, dann bleiben
uns nur noch drei Tage.«
»Und du glaubst ihr?«
»Ich hoffe, ich irre mich, aber ich denke, wir
fangen an, klarer zu sehen.«
»Du tust schon wieder so geheimnisvoll!«
Charlottes Stimme klang ärgerlich.
»Ich weiß.« Er hob die Schultern. »So bin ich nun
mal.«
Dedlock nahm eine Droschke in die
Innenstadt und verließ sie mitten im Getriebe am Piccadilly Circus, diesem
Mekka für Schlemmer, Schlampen und Schwerenöter. Dedlock blieb nicht stehen, um
sich die Freuden des Orts vor Augen zu führen, sondern steuerte auf die
vornehme Ruhe des St.-James-Parks zu, in dessen Nähe sich sein Klub befand,
eine feudale Oase, nur wenige Sekunden vom Trubel der Stadt entfernt.
Seit Tagen herrschte im Direktorium eine
Atmosphäre
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