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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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dass heute ja
ein Schultag war, dass er Unterricht hatte und – falls stimmte, was der
Junge ihm erzählt hatte – dass das Kind gerade in dieser Minute das Ziel
geflüsterter Sticheleien und erbarmungslosen Spotts war. Da konnte der Albino
mitfühlen; seine eigene Schulzeit war eine einzige verschwommene Erinnerung an
hämisches Grinsen, übelste Beschimpfungen und unerwartete Prügel auf dem
Spielplatz – an all die gemeinen Demütigungen und endlosen Grausamkeiten
der Kindheit.
    Wie als Antwort auf diesen ungewollten Rückblick
verspürte Skimpole ein neuerliches Bersten in seinem Magen, ein weiteres
Aufwallen höllischer Qual. Er taumelte zu einem Stuhl, schnappte keuchend und
pfeifend nach Luft und zwang sich, ruhig zu bleiben und nicht daran zu denken,
welche Bewandtnis es mit dieser Pein hatte. Aber er kannte die Bedeutung dieses
schleimigen Zerrens in seinen Eingeweiden nur allzu gut – war sich von dem
Moment an, als Slattery auf dem Boden des Direktoriums sein Leben ausgehaucht
hatte, völlig darüber im klaren gewesen. Die Zeit lief ihm davon – es
blieben ihm nur mehr ein paar Tage –, und er war entschlossen, das Beste
aus dieser Zeit zu machen, um etwas zu hinterlassen, auf das er stolz sein
könnte.
    Man wird sich an mich erinnern
, entschied
er mit verbissenem Gesicht, zu schwach, um sich zu bewegen, während das Blut
durch seinen Kopf dröhnte und der Schmerz wieder in ihm hochstieg.
Man wird
sich an mich erinnern.
    Das war sein letzter Gedanke, bevor er in einen
erschöpften Schlaf glitt, eine gnädige Erlösung von der Qual. Er wachte auf,
als sein Sohn in der Tür stand.
    »Papi, was hast du denn?«
    Mit einer gewaltigen Willensanstrengung richtete
sich der Albino auf. »Nichts. Gar nichts habe ich. Bin bloß ein wenig
eingenickt. Wie war es in der Schule?«
    Der Junge wandte verlegen den Blick ab.
    »Komm her.« Skimpole klopfte sich aufs Knie.
    Sein Sohn hinkte durchs Zimmer und kletterte
schwerfällig auf Skimpoles Schoß. Das Kind war eigentlich schon zu groß dafür,
aber dies war ein altes, heißgeliebtes Ritual, das leichtfertig aufzugeben
beide nicht willens waren. Der Albino zog ihn eng an sich, und in dem Versuch,
sich auch nicht den Hauch seiner eigenen Beschwerden anmerken zu lassen, begann
er zu singen – ein vertrautes Schlaflied, seine Lieblingsmelodie aus der
Kindheit. Der Junge lachte; in den sanften Klängen der väterlichen Stimme
verloren sich all die scheußlichen Quälereien des Schultags, und ein paar süße,
flüchtige Momente lang lächelte auch Skimpole selbst.
    Sie werden sich erinnern, dass ich am
Anfang dieser Erzählung versprochen habe, Ihnen an mancher Stelle der
Geschichte eine schamlose Lüge aufzutischen. Ich will ehrlich sein und
gestehen, dass genau dies ein solcher Zeitpunkt ist. Alles, was sie soeben über
Mister Skimpole und sein verkrüppeltes Kind gelesen haben, ist reine Erfindung.
    Was für ein zartsinniger Gefühlsmensch ich doch
bin, nicht wahr?
    Zurück zur Wahrheit.
    Meistens schien der Schlafwandler keinerlei feste
Nahrung zu benötigen; so etwas wie Tafelfreuden war ihm fremd, und manchmal
gingen Tage oder sogar Wochen ins Land, ohne dass auch nur ein Krümel über
seine Lippen kam. Doch bei den unregelmäßigen Gelegenheiten, zu denen er
offenbar doch für sein leibliches Wohl sorgen musste, pflegte er in
vortrefflicher Art und Weise zu tafeln.
    Spät am Morgen nach Barabbas’ Tod saß er im
Speisesaal des Hotels und genoss ein ausgiebiges Frühstück. Er schaufelte sich
rosafarbene Speckstreifen zwischen die Zähne, abgelöst von Eiern, Tomaten,
Sardinen und getoastetem Brot, und schwemmte das alles mit Glas um Glas kalter
Milch hinunter. Moon war noch nicht aufgetaucht, und der Schlafwandler war
überglücklich gewesen, auch seinen Platz leerzufuttern. Eine Reihe von Gästen,
denen durch das geräuschvolle Kauen des Riesen der Appetit vergangen war,
hatten ihm ihre eigenen Teller überlassen, auf denen sich immer noch die
fettigen Reste eines meist kaum berührten, vollständigen englischen Frühstücks
türmten. Das hatte zur Folge, dass dem Schlafwandler alles in allem der größte
Teil der Mahlzeiten von fünf oder sechs Personen vergönnt war. Während ihn die
Frage beschäftigte, was wohl zu Mittag auf dem Speisezettel stand, winkte er
einen Kellner zu sich. Zögernd und mit hochnäsiger Miene setzte sich der Mann
in Bewegung.
    NOCH MILCH
    Mit jener Mischung aus Unlust und
Arroganz, die britischen Kellnern so beispiellos zu

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