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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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fühlte sich plötzlich nicht mehr wohl und irgendwie fehl am Platz. Also gab
er dankbar der Versuchung nach, nahm die Krawatte ab, knöpfte das Hemd auf und
zog es aus, um die zwei spektakulären gekreuzten milchweißen Narben auf seinem
Oberkörper zu enthüllen. Er ließ die Finger über die tiefen Furchen gleiten und
strich über die altvertrauten Linien ihres Verlaufes. Der Mann mit der Pfeife
blickte herüber und nickte anerkennend.
    Dedlock griff nach seinen Zigaretten und lehnte
sich zurück, ein seltenes Lächeln der Zufriedenheit auf dem Gesicht. Endlich
war er zu Hause.
    Als er erwachte, war der Raum still,
dunkel und leer. Während er daranging, seine Gliedmaßen zu einem annähernd
wachen Bewusstseinszustand zu strecken, kam ihm als erstes die Frage in den
Sinn, warum ihn der Alte mit den buschigen weißen Brauen nicht geweckt hatte.
Er fühlte sich völlig steif, und seine Gelenke schmerzten vom langen reglosen
Sitzen. Er rieb sich die Augen und befasste sich gerade ernsthaft mit dem
Gedanken, sich aus dem Lehnsessel hochzurappeln, als er das unbehagliche Gefühl
hatte, beobachtet zu werden.
    »Ist da jemand?«, fragte er.
    Seine Finger tappten nach dem Revolver, den er
stets verborgen in seiner Weste trug, als ihm zu spät einfiel, dass er sich ja
in seiner Solidaritätsbezeugung für die anderen Überlebenden halbnackt
ausgezogen hatte.
    »Sie sind also wach«, sagte eine Stimme.
    »Wer ist da?«, fragte Dedlock noch einmal.
    Eine Gestalt bewegte sich auf ihn zu, und er vermeinte,
zwei weitere Personen an ihrer Seite auszumachen.
    »Wissen Sie, wer wir sind?«, fragte eine andere
Stimme.
    »Erraten Sie es?«, sagte eine dritte.
    Alle drei Männer sprachen mit unterschiedlichen,
jedoch deutlich ausgeprägten Akzenten. Gemeinsam waren sie unverkennbar.
    »Ich weiß, wer ihr seid«, sagte Dedlock, während
tausend Nadeln an seinem Rückgrat auf und ab tanzten.
    »Ich wette, Sie hätten nicht gedacht, dass es uns
wirklich gibt«, sagte der erste Mann.
    »Ich wusste es.«
    Einer von ihnen lachte, und die anderen stimmten
ein.
    »Mister Dedlock?«
    Er schluckte hart, entschlossen, seine Furcht
nicht zu zeigen. »Ja?«
    »Uns sind gewisse Geschichten zu Ohren gekommen.
Über eine Verschwörung, ein Komplott gegen die Stadt.«
    Dedlock räusperte sich und zwang sich, so gelassen
und ruhig zu sprechen, als würde er einer der zahllosen Kommissionen oder
Behörden, denen gegenüber er rechenschaftspflichtig war, Bericht erstatten.
»Das Direktorium weiß von einer Bedrohung für London. Einer unserer Männer ist
mit den Untersuchungen betraut – Edward Moon. Vielleicht haben Sie schon
von ihm gehört.«
    In der Dunkelheit schüttelten drei Männer
gleichzeitig den Kopf.
    »Dedlock? Wir brauchen Gewissheit. Hat das etwas
mit dem Geheimnis zu tun? Ist das Geheimnis keines mehr?«
    Ein kaltes Schweißbächlein kroch an seinem Rücken
hinab. »Das Geheimnis ist nach wie vor gewahrt.«
    »Es ist Ihnen klar, was geschähe, wenn es ans
Licht käme?«
    Eine andere Stimme: »Im Vergleich dazu wäre dies
hier ein Sturm im Wasserglas.«
    Dedlock konnte nicht mehr feststellen, welcher der
Männer gerade sprach. »Ich verspreche Ihnen, das Geheimnis bleibt gewahrt.
Nicht einmal Mister Skimpole kennt es.«
    »Und es ist unerlässlich, dass es so bleibt.«
    »Sie haben mein Wort.«
    Obwohl es stockdunkel war, hatte Dedlock das
sichere Gefühl, dass alle drei Männer lächelten – und dass ihr Lächeln
kein wohlmeinendes war. »Dann müssen wir uns darauf verlassen.«
    Ein knisterndes, klickendes Geräusch, und die drei
waren verschwunden. Seltsamerweise verspürte Dedlock jetzt kein Verlangen mehr,
sich aus dem Lehnsessel zu erheben. Vielmehr schlief er fast augenblicklich
wieder ein, und die Begegnung verschmolz mit seinen Träumen.
    Als er das nächste Mal erwachte, sangen draußen
die Vögel.
    Haben Sie Mitleid mit Mister Skimpole.
    Eine merkwürdige Bitte, ich weiß, wenn man von
seinem bisherigen Verhalten als perfider Schuft ausgeht. Aber man müsste ein
Herz aus Stein haben, wenn er einem nicht leid täte, wie er da unglücklich heim
nach Wimbledon trottete. Seine Atemzüge kamen rauh und unregelmäßig, und er
wirkte unsicher auf den Beinen und schwankte hin und her wie ein Betrunkener,
der sich einbildet, nüchtern zu sein. Die Aura eines Gescheiterten umgab ihn,
des Schwergeprüften, Todgeweihten.
    Er schloss die Tür seines kleinen Hauses auf und
wollte fast schon nach seinem Sohn rufen, als er sich erinnerte,

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