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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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erwähnt, dass Du
das Gebäude kennst – diese große, schwarze Festung nahe der Eastcheap-Street,
im Schatten des »Monuments«. Gar nicht weit davon befindet sich die Kirche
St-Dunstan-in-the-East – ein zweitrangiger Wren-Bau, aber dennoch von
hervorstechender Schönheit. Wenn Du und Mister Cribb das nächste Mal einen
eurer historischen Spaziergänge unternehmt, solltet ihr vorbeischauen und das
selbst beurteilen. Hat der Schlafwandler eigentlich je den Grund für seine
ablehnende Haltung gegenüber Mister Cribb genannt? Meiner Meinung nach ist das
alles sehr verdächtig.
    Ich bin von
Love
als Bürokraft mit einer Reihe
untergeordneter Schreibaufgaben eingestellt worden. Feststellen muss ich, dass
dieses Unternehmen erstaunlich frauenfreundlich in der Wahl seiner Angestellten
ist – allein auf meiner Etage arbeiten drei weitere Damen. Meine Pflichten
sind einfach, aber langweilig, und der tägliche Trott von neun Uhr morgens bis
fünf am Nachmittag ist nicht zu vergleichen mit dem schwindelerregenden
Abwechslungsreichtum meiner Aufträge beim Sicherheitsausschuss.
    Edward, ich glaube, ich könnte hier sehr
leicht ersticken: Es würde nicht lange dauern unter all dem Gewicht von Akten,
Schriftstücken, Korrespondenzen, Tinte und Staub.
    Auf den ersten Blick arbeitet
Love
wie jedes andere große Unternehmen
in der Stadt – altmodisch, seriös und schwindsüchtig. Dennoch gibt es zwei
bemerkenswerte Gegebenheiten, welche die Organisation einzigartig machen.
    Zum einen wird für die gesamte
Belegschaft das Quartier zur Verfügung gestellt – womit ich sagen will,
dass wir tatsächlich im Haus selbst wohnen, tief in den Kellergeschossen. Dabei
handelt es sich jedoch keinesfalls um eine Großzügigkeit, die man in Anspruch
nehmen oder ablehnen könnte, sondern es ist für alle Mitarbeiter zwingend
vorgeschrieben. Mehr als das: selbst das Verlassen des Gebäudes – wann und
zu welchem Zweck auch immer – wird nicht gern gesehen. Es wird von uns
erwartet, dass wir Tag und Nacht hierbleiben; alles, was wir benötigen, finden
wir innerhalb dieser Mauern. Ich hatte keine andere Wahl, als diese Bedingungen
zu akzeptieren, und so schreibe ich jetzt in dem winzigen Zimmer, das ich mit
einem zweiten Mädchen teile. Zum ersten Mal verbringe ich die Nächte in einem
Stockbett – was in Dir vermutlich nur vertraute Gefühle wecken würde.
Jedenfalls hoffe ich sehr, dass der mysteriöse »Hinweis«, dem Du zusammen mit
Deinem hoch gewachsenen Freund aus dem Luxus Eurer üppig ausgestatteten
Hotelsuite heraus folgst, bedeutsam genug ist, um die spartanischen
Lebensumstände zu rechtfertigen, zu denen Du Deine einzige Schwester zwingst.
    So seltsam diese Umstände auch
anmuten – es herrscht ein gutes Gemeinschaftsgefühl hier. Dass wir alle
gemeinsam essen, schlafen und arbeiten, scheint ein Klima der
Kameradschaftlichkeit zu erzeugen, ganz wie in meinem alten College oder wie es
wohl für Matrosen auf See zutreffen mag. Besorgniserregend finde ich jedoch
diese Atmosphäre der gespannten Erwartung, die hier herrscht. Ich bin überzeugt
davon, dass diese Leute mit etwas Bestimmten rechnen; sie kommen mir vor wie
eine Rugbymannschaft vor dem ersten Spiel der Saison oder eine Armee, die des
Einsatzbefehls harrt.
    Selbstverständlich ist es nicht nur
die Eigenart ihrer inneren Ordnung, die diese Firma als ungewöhnlich
kennzeichnet. Weitaus sonderbarer mutet da schon die Gepflogenheit an, den
richtigen Namen der Leute zwangsweise durch eine Nummer zu ersetzen; erst diese
Nummer ermöglicht eine Identifikation, denn so verrückt das auch klingen mag,
es trägt jede Person in diesem Gebäude denselben Nachnamen: Love.
    So existiert also Charlotte Moon nicht
mehr, und an ihrer Stelle schreibt Dir nun Love 999. Meine Beinahefreundin ist
Love 893. Du siehst jetzt, wieso ich Dir ihren Namen nicht nennen konnte.
    All das kommt mir höchst eigenartig
vor und einigermaßen unheimlich. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass ich
schon sehr neugierig bin, was Du zu der ganzen Sache sagst.
    Noch etwas stellt mich vor ein Rätsel:
Der Schlafwandler hatte recht. Heute sah ich Mister Speight, nicht nur sauber
und ordentlich beieinander, sondern mehr noch: elegant gekleidet in einen
beunruhigend teuren Anzug. »Love 903«, so seine Bezeichnung, erkannte mich
nicht, als wir im Korridor aneinander vorbeigingen, und würdigte mich keines
zweiten Blickes. Er arbeitet auf einer der oberen Etagen und scheint daher ein
wichtiger Mann hierzu

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