Das Allheilmittel - Valoppi, J: Allheilmittel
überlege, schreibe ich sie dir lieber auf.«
11
»Es gibt zweite Chancen im Leben, und das ist meine. Ich werde sie ergreifen. Es wird funktionieren. Es gibt zweite Chancen. Ich weiß es. Was tun diese Ärzte schon? Die halten sich doch alle für Gott. Ich lehne es ab, mich mit ihrer Todesstrafe abzufinden. Ich akzeptiere sie einfach nicht.« Innerlich sprang Claire auf und ab. Sie sprach mit geballten Fäusten laut mit sich selbst, gefesselt an das Krankenbett von einem Schlauch, der durch ihre Rippen in die Lunge führte. Am Vortag konnte sie sich kaum bewegen. Heute fühlte sie sich bereit, aus dem Bett zu springen und aus dem Gebäude zu rennen, wenn ihr nur jemand diesen verdammten Schlauch abgenommen hätte.
Tränen rannen ihr über die Wangen, während sie um Atem rang. Ihre Brust schmerzte ebenso wie ihr restlicher Körper, dennoch versuchte sie, an eine andere Kraft zu glauben, die sie von ihrer Plage erlösen, das Unausweichliche besiegen und diese Todesstrafe aussetzen würde, die ihr so ungerecht auferlegt worden war. Für die Chance, neu zu beginnen, würde sie jeden Handel eingehen und jeden Preis bezahlen.
Alles, was sie sich bemüht hatte, richtig zu machen – Ertüchtigung, Meditation, Yoga, kein Rauchen, kein Zuckker – erwies sich letzten Endes als bedeutungslos. Und der schlimmste Gedanke von allen war: Was, wenn sie sich irrte, was Reinkarnation, den Himmel, ein Leben nach dem Tod in irgendeiner Form anging; was, wenn nichts davon stimmte und einfach alles endete? Was, wenn Helene von Anfang an Recht gehabt hatte? Geburt, Leben, Tod, Vergessenheit.
»Aber vielleicht ist es nicht vorbei«, flüsterte sie. »Vielleicht ist das nicht mein Ende. Jedenfalls fühlte es sich nicht danach an.« Ihr weißer Ritter würde auf einem Schimmel herbeigeritten kommen und sie retten. Konnte es wahr sein? Warum nicht? Das Leben steckte voller Überraschungen. Die Medizin erzielte jeden Tag gewaltige Fortschritte. Vielleicht könnte sie um die nächste Ecke biegen und diese ganze Angelegenheit wie eine schlimme Grippe hinter sich lassen. Sie brauchte Kraft und Glauben. Plötzlich war ihr nach Kampf zumute, nicht nach aufgeben.
Als Helene das Zimmer betrat, ließ sie sofort eine Äußerung über den Zustand der Erregung ihrer Mutter fallen.
»Das ist keine Erregung«, entgegnete Claire, »das ist ein Hochgefühl. Siehst du denn nicht, was hier geschieht? Ich werde in die Geschichte eingehen. Das muss ich glauben. Ausgerechnet du, liebe Tochter, der große TV-Star, solltest verstehen, was für eine Sensationsstory das ist. Ich könnte der erste Mensch in den USA werden, der erwiesenermaßen von unheilbarem Krebs geheilt wird!«
»Mom, ich liebe dich und wünsche dir das mehr als alles andere auf der Welt, aber du solltest darüber nicht so aus dem Häuschen geraten. Er könnte ein Quacksalber oder ein Scharlatan sein. Wer weiß, was er von dir will.«
»Ich sollte nicht so optimistisch sein, willst du drauf hinaus? Ich habe dir bereits gesagt, dass er gar nichts will. Er nimmt kein Geld. Er will lediglich die Welt von dieser abscheulichen Krankheit befreien.«
»Warum ausgerechnet dich, Mom?«
»Tja, wenn du denkst, es ist wegen dir, Helene, dann muss ich dich enttäuschen. Er will keine Publicity. Das alles muss ein großes Geheimnis bleiben. Tatsächlich hätte er fast einen Rückzieher gemacht, als ich ihm erzählt habe, wer du bist. Er meinte, ihm liegt nichts an Ruhm und dass absolut niemand davon erfahren darf.«
»Warum dann? Es muss Tausende geben, die in diesem Moment an Krebs sterben. Warum ausgerechnet du?«
»Weil ich aufgeschlossen bin, und diese Behandlung verlangt Aufgeschlossenheit. Das hat er gesagt.«
»Mir gefällt das alles nicht. Du erhältst einen Anruf von einer deiner angeblich hellseherisch begaben Newage-Freundinnen, die behauptet, jemand zu kennen, der Krebs heilen kann. Gleich darauf, ohne dass du darüber nachdenken kannst, ist schon ein mysteriöser Arzt aus China unterwegs, und wir sollen nur sagen: ›Danke, danke, danke.‹ Du darfst nicht mit deinem Arzt darüber reden, der dich seit zwanzig Jahren kennt. Es fühlt sich nicht richtig an. Ich will nur, dass du darüber nachdenkst.«
Claire mühte sich mit einem tiefen, schmerzlichen Atemzug ab. Ein beinah friedliches Gefühl erfüllte sie. »Helene, was gibt es da nachzudenken? Ich bin so gut wie tot. Mein Arzt, der mich seit zwanzig Jahren kennt, hat mir nichts zu bieten, nicht einmal eine schmerzfreie Möglichkeit
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