Das Allheilmittel - Valoppi, J: Allheilmittel
Gefühl, eine Ahnung, ein fast greifbarer Gedanke, doch er konnte ihn nicht richtig erfassen. Er war real, das spürte er, doch er entzog sich ihm.
Dann erinnerte er sich an einen Ort, der nur aus Tintenblau und Weiß bestand, und auf einmal strömte die gesamte Erinnerung wie durch einen gebrochenen Damm über ihn hinweg.
Er sah einen Bach, der in eine Höhle floss, und darin befand sich ein großer, aus dunklem Stein gehauener Stuhl. Darauf saß ein Mann mit langem Haar und Bart. Er war dünn und hatte freundliche Augen. Neben ihm stand eine sehr hoch gewachsene Gestalt in langen Roben. Justin erwartete, von dem Mann auf dem Thron herzlich begrüßt zu werden, doch stattdessen wurde er zurückgewiesen. Justin streckte die Arme nach den dürren Beinen des Mannes aus, der sprach: »Du gehörst hier nicht her.«
Justin bettelte, bleiben zu dürfen. »Ich will nicht zurück.«
Der alte Mann schüttelte mit strenger Miene den Kopf.
»Dann lass mich ihn mitnehmen.« Justin deutete auf den großen Mann neben dem Thron.
»Er gehört zu mir. Schon seit dem Anbeginn ist er bei mir. Du hast deinen eigenen Engel.«
Der Riese hob Justin auf und trug ihn zu einem kleinen Holzboot am Eingang der Höhle. Er legte Justin in das Boot, und ein weiterer Mann, der darin stand, verwendete das Paddel in seiner Hand, um sie vom Ufer abzustoßen.
»Hab keine Angst«, sagte der Mann im Boot. »Es gibt noch viel zu tun. Ich kümmere mich um dich.«
»Darf ich dich Fouick nennen?«, fragte Justin.
Der Mann lächelte. »So klingt das Geräusch, das ein Klavier von sich gibt, wenn ich richtig spiele.«
Das Nächste, woran sich Justin erinnerte, war, dass er die Augen aufschlug und seine Mutter erblickte, die weinend über ihm stand. »Mein Baby!«, schrie sie. »Ich dachte schon, du hättest zu atmen aufgehört!«
Justin wollte ihr erzählen, was geschehen war, doch er war noch viel zu jung, um es ihr zu erklären.
63
Dr. Cohens Warteraum war überfüllt mit hustenden und schniefenden Patienten, die mit ihren Handys telefonierten oder Zeitschriften durchblätterten. Claire widerte die Atmosphäre an, und sie hatte keine Lust, etwas zu lesen. Aber Dr. Viviee hatte sie aufgefordert, den Termin wahrzunehmen, also harrte sie aus und erwartete, bald aus dem Hauptraum in das kleinere Wartezimmer geführt zu werden, das Dr. Cohen für seine prominenten Patienten oder persönlichen Freunde reservierte. Stattdessen wurde sie direkt zum Röntgen gebracht, als die Stationsschwester sah, dass sie bereits eingetroffen war.
»Dr. Cohen möchte, dass wir erst röntgen«, erklärte die Schwester. »Bitte, legen Sie Ihr Oberteil, den Büstenhalter und Ihre Halskette ab und ziehen Sie dieses Nachthemd an. Ich bin gleich wieder zurück.«
Claire fügte sich, ohne einen Gedanken an die Bedeutung dieser Untersuchung zu verschwenden. Sie schlüpfte aus ihrer Kleidung, nahm ihren Schmuck ab und steckte diesen behutsam in das Seitenfach mit Reißverschluss ihrer beigen Handtasche. Dann streifte sie das Nachthemd mit der Öffnung nach vorne über.
Sie stand mit dem Gesicht zur Wand vor dem Kasten aus Glas und Metall. Als sie dazu aufgefordert wurde, hielt sie den Atem an und staunte selbst darüber, wie tief sie die Luft einsaugen konnte.
»In Ordnung, weiteratmen«, sagte die Krankenschwester.
»Wie viel Strahlung bekomme ich da eigentlich ab?«, wollte Claire wissen, als die Schwester sie eine andere Stellung einnehmen ließ.
»Angeblich weniger als bei einem Flug nach Kalifornien. Jetzt bitte einatmen und die Luft anhalten.«
»Ach so, deshalb müssen Sie hinter einer Bleiwand stehen – weil die Strahlung so gering ist.«
»Mrs. Cummings, ich mache das den ganzen Tag.«
Claire ging nicht näher darauf ein. Sie fühlte sich stark. Ihre Lungen waren so voll, dass sie vermeinte, über Berge schweben zu können.
»Danke, weiteratmen. Der Doktor möchte noch eine Ansicht, dann haben wir es.« Abermals ließ die Schwester Claire eine andere Position einnehmen.
Claire fühlte sich wie jemandes Versuchskaninchen. Sie konnte es kaum erwarten, Dr. Cohens Gesicht zu sehen. Ärzte glaubten immer, sie wüssten alles.
Sie selbst hatte jahrelang die Vorzüge alternativer Medizin angepriesen, und man hatte nur über sie gelacht. Keiner ihrer Ärzte wollte etwas von anderen Möglichkeiten hören, an ein Problem heranzugehen; sie waren zufrieden mit ihren Medikamenten und Krankenhäusern. Alle hatten ihr bestätigt, dass ihre einzige Hoffnung in einer
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