Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
sah ihn missbilligend an.
»Ja, ja, verehrter Herr Standartenführer«, fuhr Stich fort. »Was glauben Sie denn, wie dieser Knabe so weit gekommen ist? Ich versichere Ihnen, dass Arno von der Leyen kaum Flaum auf den Wangen hatte, als er sich schon einen Platz in der Leibwache des Führers verdient hatte. Mit Totenkopf und allem Drum und Dran. Nicht viele bringen es in so jungen Jahren so weit. Der Inbegriff eines Jünglings, jawohl! Aber auch ein Kriegsheld. Er hat Blut an seinen Orden, wie sich das gehört. Aufgrund seiner Position steht er unter besonderem Schutz. Ohne ihn wäre wohl kaum einer von uns hier hoch gekommen. Er ist es, der hier von Bedeutung ist, nicht wir. Wir sind nur seine Stubenkameraden, seine Kulisse. Begreifen Sie das, meine Herren?«
Die Kälte und die völlige Ausdruckslosigkeit der Stimme des Postboten entsetzten James. Monatelang hatte er geschwiegen und sie alle beobachtet, in Freund und Feind unterschieden. Er war der Puppenspieler und sie die Marionetten. James zitterte bei dem Gedanken, er könnte sich vor ihm verraten haben.
»Nun kenne ich ja nicht nur Arno von der Leyens Meriten«, fuhr der Postbote fort. »Ich habe ihn auch schon einmal gesehen, obwohl das lange her ist und ich damals kaum ein Auge für ihn hatte«, betonte er.
»Und jetzt wird es erst richtig interessant. Denn den Arno von der Leyen, den ich damals gesehen habe, kann ich so gar nicht in dem Herrn wiedererkennen, der bald wieder in seinem Bett dort drüben liegen wird. Ich bin mir keinesfalls sicher, dieses Gesicht vorher überhaupt schon einmal gesehen zu haben. Ich habe meine Zweifel, verstehen Sie!« Kröner, der ihn unterbrechen wollte, ließ er nicht zu Wort kommen.
James spürte, wie er am ganzen Leib zitterte. Das Laken war schweißnass. Wenn sie nun Bryans Identität anzweifelten,dann gnade ihnen Gott. Sogar Kröner ließ sich von dem Postboten in die Schranken weisen.
Das konnte nichts Gutes verheißen.
»Wir müssen also rational denken und alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Und Sie, meine Herren, bitte ich nun, besonders aufmerksam zu sein. Denn was ist schlimmer? Dass wir ein wenig bei seinem Selbstmord nachhelfen und er damit aus unserem Leben verschwindet, wobei uns das möglicherweise gar nicht gut bekommt? Oder dass er eines Tages als Betrüger und Simulant enttarnt wird? Lassen wir ihn leben und er ist der richtige Arno von der Leyen, ist alles gut. Abgesehen davon, dass er zu viel von unseren Plänen weiß – weil die Herren nachts ja immer so dringend flüstern müssen. Und wenn er nicht Arno von der Leyen ist, weiß er immer noch zu viel.
Sollte sich eines Tages zeigen, dass er simuliert, werden uns die Sicherheitsleute vermutlich trotzdem verdächtigen. Man wird auf jeden Fall in unserer Vergangenheit graben. Und genau darum musste ich ihn unbedingt aus der Situation mit den Fensterläden retten. Denn er hätte sich unter Garantie dafür revanchiert, dass die Herren seine Flucht vereitelt haben. Und damit hätten unsere Schicksale recht unzweckmäßig mit seinem in Verbindung gebracht werden können.« Er sah sich um. »Ja ja. In jeder Hinsicht ein Dilemma, über das man nachdenken muss.
Ich habe ihn vom ersten Tag an beobachtet. Mir kommt er unausgeglichen, jung und verwirrt vor. Ich kann mich nicht recht entscheiden, ob er Arno von der Leyen ist oder nicht. Aber wenn er es nicht ist, glaube ich nicht, dass er in der Lage ist, seinen Betrug bis zum bitteren Ende durchzuhalten.« Er musterte sie eingehend. »Was mich betrifft, ist Schmerz ein erregender Tanz neuer Gefühle, wenn ich so sagen darf. Eine willkommene Gelegenheit, den Körper ganz neu zu erfahren. Aber so muss es ja nicht allen gehen.«
Dieter Schmidt zuckte die Achseln. Er war blass.
»Habe ich Recht?«, schloss der Postbote.
Horst Lankau teilte ganz offensichtlich Schmidts Ehrfurcht vor dem Postboten nicht. Aber Kröner akzeptierte die Situation, wie sie war. »Klappe, Lankau! Wir wissen doch, was du auf dem Herzen hast.« Kröner wurde ungeduldig, als Lankau nicht aufhörte, unzufrieden zu brummen. »Von jetzt an halten wir zusammen. Abgemacht?«
»Wollen wir uns nicht darauf einigen«, schaltete sich der Postbote wieder in diesem ausdruckslosen Ton ein, »dass der Herr Standartenführer Lankau, dieser Mann der Tat, der Richtige ist, um den sogenannten von der Leyen aus dieser tristen Welt zu befördern?«
Als Bryan auf die Krankenstube gebracht wurde, war praktisch alles für seine Liquidierung
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