Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
schräg über die Straße. Schwer beladen, wie der Anhänger war, rutschte er bei dem Manöver quer über die Fahrbahn, rammte das Schild und kam schließlich zum Stehen. Die folgenden LKW waren bereits so dicht auf die Unfallstelle aufgefahren, dass niemand mehr zurückstoßen konnte. So baute sich in Windeseile ein Stau auf und die Straße lag im Dunkeln.
Bryan sah erst nach Süden, dann nach Norden. Der Verkehrsstrom war tatsächlich unterbrochen. Kurzentschlossen nutzte er die Gelegenheit und humpelte zügig über die Fahrbahn.
Ein kurzer Blick zurück genügte, um sich zu versichern, dass ihn weder die Dorfbewohner noch die Ordonnanzen entdeckt hatten. Aber irgendwie kam es ihm so vor, als huschten Schatten über die Fahrbahn.
Die Weinlese war längst abgeschlossen. In der Erde zwischen den Weinstöcken steckten zahlreiche scharfkantige Aststücke, sodass Bryan bei jedem Schritt aufpassen musste, sich nicht die nackten Füße zu verletzen. Er hätte sonst was gegeben für ein Paar Schuhe.
Die Kälte ging ihm durch und durch. Die Zehen protestierten schon nicht mehr, auch nicht der verletzte Knöchel, weil im Grunde alles schmerzte.
Aus unerfindlichen Gründen hörte das Bombardement im Norden plötzlich auf. So konnte er auf der anderen Rheinseite das Ticken leichter Handfeuerwaffen hören. Als auch dort eine Feuerpause eintrat, vernahm Bryan in den Pflanzen hintersich eine Art Pfeifen. Er richtete sich schnell auf und spähte mit allen Sinnen über die halbhohen Ranken. Keine zehn Weinstöcke entfernt sah er wieder, wie sich dort tatsächlich graue, unbekannte Schatten bewegten.
Da beeilte er sich, weiterzukommen.
Bis zum Ende des Weinbergs war es nicht mehr weit. Eine undurchdringlich scheinende Windschutzpflanzung ragte dort auf. Bryan merkte, dass er sich dem Rhein mit der charakteristischen Flusslandschaft näherte. Immer deutlicher konnte er das Schwappen von Wasser hören. Er rutschte aus und ruderte wie wild mit den Armen, um nicht zu stürzen. Als ein erschrockener Vogel vor ihm aufflog, blieb er stehen. Wie ein Echo seiner eigenen tastenden Schritte waren hinter ihm schwache Geräusche zu hören. Er drehte sich um und kauerte sich zusammen.
Er war nicht allein.
Die Hände auf die Hüften gestützt, stand etwa acht Schritte von ihm entfernt eine Gestalt. Das Gesicht konnte Bryan nicht erkennen, wohl aber die Silhouette. Eiskalt lief es ihm über den Rücken.
Lankau.
Der würde ihn mit Sicherheit nicht laufen lassen.
Der Breitgesichtige schwieg und rührte sich nicht, dabei hätte er Bryan mit wenigen Schritten erreichen können. Seine ganze Haltung hatte etwas Lauerndes. Bryan spitzte die Ohren. Im Gestrüpp hinter ihm raschelte es.
Bryan hatte nie etwas Vergleichbares gesehen. Wasserlauf und Wald waren wie miteinander verwoben, ein botanisches Meisterstück, Sumpf und Dschungel zugleich. Der perfekte Ort, um in einer perfekten Nacht zu verschwinden. Das gefiel seinem Verfolger sicherlich ausgezeichnet.
Sie standen sich gegenüber und musterten sich – in Anbetracht der Situation erstaunlich lange. Erst allmählich ging Bryan auf, dass Lankau alle Zeit der Welt hatte. Noch einmalwarf Bryan einen Blick über die Schulter. Wieder wisperte es im Gestrüpp. Da wurde ihm völlig klar: Lankau war tatsächlich nicht allein. Unvermittelt schlug Bryan eine neue Richtung ein. Damit hatte Lankau nicht gerechnet, er musste über mehrere Rebstöcke springen, ehe er dorthin kam, wo Bryan bis eben gestanden hatte.
Mit diesem Manöver hatte sich Bryan einen beträchtlichen Vorsprung verschafft. Sobald er eine Stelle gefunden hatte, wo sich das Unterholz etwas öffnete, bog er in das fremdartige Dickicht ein. Nur wenige Schritte, und er versank bis zur Taille im Wasser. Der Grund war fest, aber glatt. Ob sie ihm wohl von einer anderen Seite den Weg abschneiden konnten? Und was viel wichtiger war: Ob ihn der Grund auch weiterhin tragen würde? Der Gedanke an einen langsamen Tod im Morast ließ ihn vor jedem weiteren Schritt mit den Zehenspitzen den Boden abtasten, auch wenn das Zeit kostete.
Hinter ihm waren erregte Stimmen zu hören. Im Moment hatten sie seine Fährte verloren, und Bryan gab sich die größte Mühe, sich so geräuschlos wie möglich durch das Wasser zu bewegen. Auf die Dauer würde sein Organismus diese Kälte nicht verkraften.
Einer der Männer im Gestrüpp hinter ihm stieß ein hohles, durchdringendes Geheul aus. Jetzt stand er also ebenfalls im eiskalten Wasser.
Vorhin hatte
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