Das alte Kind
Artikel mit einem kleinen Porträtfoto des Experten, daneben ein großes Foto von einem sehr ungünstig getroffenen Kind mit Down-Syndrom mit der haarsträubenden Bildunterschrift: Auch die Eltern dieser Kinder sind geschlagen.
Nicht einmal die österreichischen Blätter machten Halt vor dieser Geschichte, und sie brachten als erste Frederik ins Spiel, weil er gerade in Österreich war, weil er die Mozart-Festspiele eröffnen würde, weil neuerdings eine Professur am Mozarteum im Gespräch sei (davon wusste Frederik allerdings nichts). Sein Name wurde zwar ohne weitere Wertung erwähnt – er hatte schon befürchtet, man werfe ihm vor, zu wenig Zeit mit Frau und Kindern zu verbringen –, aber dass sein Foto nunmehr täglich abgedruckt war, nicht klein im Feuilleton, das sowieso nur die wenigsten lasen, sondern groß auf den vorderen Seiten, das ließ ihn verzweifeln. Er war ruiniert, er war gebrandmarkt, seine Frau hatte endgültig sein Leben zerstört, dabei hätten sie sicher alles hinbekommen, wenn sie nur stillgehalten hätte, wenn sie sich nur irgendwann damit abgefunden hätte.
Sein Agent rief ihn einmal am Tag an, um zu sagen: Wir sitzen das aus, wir sitzen das einfach aus, ich gehe nicht ans Telefon, und wenn sie deine Termine absagen wollen, müssen sie schon schreiben, aber wir sitzen das einfach aus.
Frederik war überzeugt, dass er die längste Zeit sein Agent gewesen war.
So wie Peter die längste Zeit sein Freund gewesen war.
Endlich kam Peter, mit Hut und Mantel, den Schal lose um den Hals gebunden. Er hielt sich nicht lange mit der Begrüßung auf, bestellte einen Braunen beim Kellner, nahm Frederik die Zeitung aus der Hand.
Nervös sah sich Frederik um. Niemand sah ihn an. Bestimmt schauten die Leute nur gerade weg, solange er sich umsah. Dann würden sie ihn wieder anstarren.
Hast du davon gewusst?, wollte Peter wissen.
Frederik schüttelte energisch den Kopf. Selbstverständlich hätte er sie aufgehalten.
Wie es so weit kommen konnte?
Diese Frage konnte er seinem Freund nun wirklich nicht beantworten.
Wie krank ist Carla wirklich?
Du meine Güte, empörte sich Frederik, bist du unter die Zeitungsschreiber gegangen? Werde ich interviewt?
Deine Frau, sagte Peter nachdenklich. Was geschieht nun mit ihr?
Frederik wusste es nicht. Er hatte versucht, mit ihr zu sprechen, aber sie weigerte sich, ans Telefon zu kommen. Sally hatte ihm erzählt, dass sich Carla nach wie vor nicht um Fliss kümmerte, dass sie nur noch in der Bibliothek säße. Sie isst kaum noch was, hatte Sally gesagt.
Lasst ihr euch scheiden?, fragte Peter nun ganz direkt.
Das wäre das Beste, nicht wahr?, erwiderte Frederik und vergrub sein Gesicht in den Händen, kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Natürlich würde er sich scheiden lassen müssen. Mit ihr weiterhin verheiratet zu sein, würde ihn zu einem gesellschaftlichen Niemand machen. Nur wenn er jetzt einen klaren Schlussstrich machte, wenn er jetzt Stellung bezog, konnte er sich retten. Scheidung, dann ein, zwei Jahre zurückziehen, bis sich die Wogen geglättet, bis alle vergessen hatten. Geld hatte er genug, es würde schon gehen.
Aber er hatte Angst, was die Illustrierten schreiben würden. Sie würden seitenweise über Carla und ihn und Fliss berichten. Seitenweise! Sie würden Text brauchen. Und wer konnte schon vorhersagen, womit sie ihre Zeilen füllen würden. Ja, er brauchte deutlichen Abstand von Carla.
Das wäre das Beste, wiederholte er und wagte nicht, den Freund dabei anzusehen.
Du darfst dich jetzt auf keinen Fall scheiden lassen. Du musst bei ihr bleiben, sagte Peter. Sie gehört in eine Klinik, aber lass dich nur nicht scheiden. Sie würden dich einen Feigling nennen.
Frederik verstand nicht. Alle Welt nannte seine Frau eine Wahnsinnige, aber ihm würde man es verübeln, wenn er sich scheiden ließe? War es nicht besser, deutlich zu zeigen, wo er stand?
Erst jetzt sah er dem Freund ins Gesicht, sah, dass dieser so ernst blickte, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Du musst bei ihr bleiben, ganz egal, was passiert. Wenn ich doch nur früher gewusst hätte, was bei euch los ist, sagte Peter. Ich hätte helfen können. Ich hätte etwas arrangieren können. Du hättest das niemals mit dir alleine ausmachen dürfen.
Frederik hob die Schultern. Versuchte ihm deutlich zu machen, wie peinlich ihm das Ganze war, wie wahnsinnig sich Carlas fixe Idee vom vertauschten Kind für jeden anhören musste, so etwas machte man nicht publik, sagte man
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