Das alte Kind
Minuten später standen sie vor Bradys Haus in Easington Village. Ben stieg aus und klingelte Sturm, aber keiner öffnete. Dafür war der neugierige Nachbar, der an seinem Rasen herumschnitt, wohltuend auskunftsbereit: »Die sind nicht da. Die sind im Urlaub.«
»Im Urlaub?« Gestern hatte Brady noch nichts von Urlaub gesagt, als die beiden zusammen in der Mittagspause ein Sandwich verdrückt hatten. Brady war wie immer gewesen. Oder doch nicht?
»Australien. Sind lange unterwegs, haben sie gesagt. Um was geht’s denn?«
»Sind sie heute Morgen weg?«, fragte Ben.
»Oh nein, nein, sie haben mir schon am Wochenende Bescheid gesagt, und gestern Abend sind sie wohl losgefahren. Wollten ab Glasgow fliegen. Um was geht’s denn?«, fragte er wieder.
Ben schüttelte nur den Kopf und ging zurück zu McCharraigin. »Australienurlaub. Da war gestern noch nicht die Rede von. Aber seinem Nachbarn hat er schon am Wochenende Bescheid gesagt.«
»Sie meinen, jemand vom Sicherheitsdienst war eingeweiht und hat den Tierschützern geholfen?« McCharraigin startete den Wagen.
»Tierschützer? Unsinn. Wenn da jemand was in die Luft gejagt hat, dann Chandler-Lytton.«
»Ach?«
»Wahrscheinlich hat er sich die Finger noch schmutziger ge macht, als Cedric es geahnt hat.«
McCharraigin lachte. »Jetzt kann ich es auch sehen.«
Verwundert sah Ben ihn an. »Was?«
»Mr. Darney sagte mir – im Vertrauen, also verraten Sie mich nicht –, dass Sie zwar seit einiger Zeit entsetzlich durchhängen und sich selbst bemitleiden, weil Sie nicht wissen, was Sie mit sich anfangen sollen…«
Ben legte die Hand an die Stirn. Cedric hatte zwar recht, aber das musste er jetzt nicht auch noch zugeben.
»…aber, sagte Mr. Darney, Sie hätten einen untrüglichen Jagdinstinkt, den man nur wecken müsste. Und von diesem Jagdinstinkt habe ich, so glaube ich jedenfalls, gerade etwas in Ihren Augen gesehen. Also? Wie lautet der Plan?« Er rieb sich die Hände.
»Rausfinden, wo Chandler-Lytton steckt und was ihn dazu getrieben hat, das ganze ImVac-Gelände in Schutt und Asche zu versenken.«
McCharraigin grinste. »Und warum er ausgerechnet jetzt abgehauen ist.«
Ben schüttelte den Kopf. »Das weiß ich.«
»Weil Sie kurz davor waren herauszufinden, welche Schweinereien er bei ImVac getrieben hat?«
»Schön wär’s. Leider bin ich noch nicht mal an die Pläne vom Sicherheitssystem rangekommen. Wahrscheinlich war dieser Brady vorgewarnt. Wahrscheinlich ist Chandler-Lytton misstrauisch geworden und hat mich noch einmal überprüft, nur diesmal richtig. Und wahrscheinlich wollten sie mich heute Morgen so richtig ins Messer laufen lassen.«
»Dann war Mr. Darneys Plan, Sie dort einzuschleusen, also doch nicht so gut.«
Ben sah aus dem Fenster. Sie fuhren auf der A19 in Richtung Norden. Gerade überquerten sie den River Tyne. Newcastle, Stadt der Brücken. »Doch, war er. Wenn ich es nicht versaut hätte.«
Salzburg, März 1981
»Jetzt komm endlich raus!«, rief Frederik und schlug mit der Faust gegen ihre Tür. Es fehlte nicht viel, und er würde die Tür eintreten.
Carla saß auf ihrem Bett, starrte die geschlossene Tür an und rührte sich nicht. Sie hatte die Knie bis zum Kinn angezogen und mit beiden Armen umschlungen.
»Komm da raus!«, brüllte ihr Mann. Jetzt hörte es sich an, als würde er mit dem Fuß gegen die Tür treten. Sie sah, wie der Schlüssel im Schloss von der Erschütterung bebte.
Sie dachte gar nicht daran rauszukommen. Es waren Fremde im Haus, das hatte sie genau gehört. Er hatte ihr nichts davon gesagt. Kein Wort, dass Fremde kommen würden, um Fliss’ dritten Geburtstag zu feiern. Sie konnte sich ihnen unmöglich zeigen. Sie war nicht darauf vorbereitet, Leute zu empfangen. Sie würde nicht einmal wissen, was sie mit ihnen reden sollte. Und beim Friseur war sie auch nicht gewesen, schon lange nicht mehr. Sie sah unmöglich aus.
Draußen auf dem Flur war es still geworden. Frederik musste sich um diese Fremden kümmern, die unten herumsaßen und laut redeten und lachten, während sie nicht aus ihrem Zimmer gehen konnte. Dass sie das nicht verstanden. Sie konnte nicht aus ihrem Zimmer gehen, solange Fremde im Haus waren. Sally würde sich um sie kümmern. Sally und die Haushälterin, wie hieß sie gleich, Maria, irgendetwas Einfallsloses in der Art. Eine Italienerin. Maria. Es war armselig.
Sie sah gut aus, diese Maria. Sie war in Sallys Alter, aber nicht so klein und pausbackig wie Sally, die langsam
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